Abendland
Jahre lang.
Mit knapp achtzehn Jahren schrieb sich Margarida an der Universität in Coimbra ein. Wirtschaftswissenschaften studierte sie, weil für sie und ihren Vater etwas anderes niemals in Betracht gekommen war. »Alle meine Freunde kamen aus der Oberschicht, alle waren katholisch und konform. Ich war eine Ausnahme, weil ich ein Mädchen war, das Nationalökonomie studierte. Aber in unserer Einschätzung des Bürgerkrieges, der hinter unserer Grenze in Spanien ausgebrochen war, unterschieden wir uns nicht: Republik war ein Gerüst des Teufels.«
Sie lernte Daniel Guerreiro Jacinto kennen, Sohn einer mit ihrem Vater befreundeten Familie. Er war ein paar Jahre älter als sie, hübsch und blaß, hatte einen Kopf voll schimmernd schwarzer Locken und einen Mund, der nie lachte. Er studierte ebenfalls Nationalökonomie, war aber alles andere als ein guter Student. Ihm fehlten die meisten Prüfungen, und das war ihm, zu Margaridas Erstaunen, egal. Er konnte sich für nichts begeistern; was in ihr das peinliche Gefühl aufrief, sie selbst gebe es bei allem zu schnell und zu billig. »In Wahrheit«, so erzählte sie mir, »verliebte ich mich in ihn, weil er gar nichts war. Kann man sich das vorstellen? Er stand auf null. Nur ein Grad im Positiven, und ich hätte mich vielleicht nicht in ihn verliebt. Ich wäre womöglich in Verehrung verfallen …« – was ich mir nicht vorstellen konnte – »… oder ein Grad im Negativen, und ich wäre zur Missionarin geworden. Nicht daß er sich selbst verachtet hätte, nein, nicht einmal das tat er. Er war ein Wunder an fehlendem Ehrgeiz. Wie ich vor ihm her über die Travessas zur Universität hinaufgegangen bin – immer blickte er mich an, als wäre ich etwas Besonderes. Nicht daß er etwas großartig Besonderes in mir gesehen hätte, Daniel hatte keinen Sinn für Pathos, nicht für Pathos und nicht für Sentimentalität, er blickte mich an, als wäre ich etwas Besonderes im Rahmen des Normalen. Etwas Besseres gibt es nicht. Daniel war kein spannender Mensch, sicher nicht, aber mit ihm zusammenzusein war spannend, weil ich jedesmal gespannt war, wer werde ich heute sein. Ich habe geredet, und er hat zugehört. Er war nett, traurig, dumm. Ich liebte ihn, weil er traurig war. Daniel wußte so gut wie gar nichts, auch über sich selber nicht. Er wußte nicht, was sein Gesicht tat, was seine Hände taten. Auch nicht, daß er hübsch war. Auch nicht, daß er kein besserer Student wurde, wenn er am Sonntag beim Familienspaziergang, wo es gar nicht gefordert war, mit der Capa e batina herumlief. Das war kein Spleen von ihm oder etwas, was man seinen Stil hätte nennen können, Daniel war ebensowenig auf Stil bedacht wie ein Schimpanse. Er meinte, er stelle damit seine Familie irgendwie zufrieden. Wir haben ihn ausgelacht, mein Vater und ich. Er wußte nicht einmal, ob es Traurigkeit war, was dieses Loch in seiner Brust hinterließ, oder ob dort einfach nie etwas gewesen war.« – Margarida konnte ein herrlich witziges Gesicht ziehen, die Wangen zusammenschieben wie den Balg einer Ziehharmonika. Ihre tiefe Raucherstimme und ihr immer etwas zerzauster Kopf paßten nicht zu ihrer zarten Gestalt. Und ihre zackigen, eckigen Bewegungen waren wie die Bewegungen einer Stummfilmfigur! Ihr Lachen war nahe beim Husten, darum klang es ein wenig ordinär. Auch das mochte ich.
Daniel und Margarida verlobten sich. Im Einvernehmen mit Daniels Eltern beschloß Herr Durao, einer Ehe erst zuzustimmen, wenn Daniel sein Examen bestanden habe. Aber Daniel schloß sein Studium gar nicht ab. Er verließ die Universität. Seine Eltern schämten sich vor Herrn Durao; um so mehr, als dessen Tochter in derselben Studienrichtung wie ihr Sohn so ungemein erfolgreich war. Sie schickten Daniel nach Lissabon auf eine Ingenieurschule, durch die er endlich mit Protektion auch geschleust wurde. Nun meinte Margaridas Vater, man solle mit der Heirat warten, bis er eine Arbeit habe. Ein Onkel hatte eine gute Arbeit für Daniel. Aber aus der Arbeit wurde nichts. Und aus einer anderen guten Arbeit wurde ebenfalls nichts; und aus der Hochzeit schon gar nichts.
»Und dann war mir auf einmal klar, daß ich in diesem Land nichts mehr verloren hatte«, erzählte Margarida. »Nichts wollte ich weniger als meinem Vater weh tun. Aber ich wußte, ich würde es ihm auch nicht mehr recht machen können. Lissabon war besser als Coimbra. Aber Paris wäre besser als Lissabon. Ich wollte nach Paris. Ohne Daniel. Und ohne den Segen
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