Abendland
und Tochter an den ausgehandelten Abenden in der Küche, die eine der anderen ein hämisch finsterer Spiegel. Die Ellbogen auf der Tischplatte. Wie Arbeiter nach Feierabend. Erstatteten einander Bericht über die Seelenarbeit der vorangegangenen Woche. Die eine eifersüchtig auf die andere. Siegerin war, die es schlechter erwischt hatte. Aber diese Besuche schürten auch eine merkwürdige Lust in den beiden, nämlich die romantische Vorstellung, sie seien vom Unglück Bevorzugte.
»Das Romantische aber«, sprach Kuni Herzog in ihrem feinen Singsang dem Dominikanerpater aufs Tonband, »ist eine kurz bemessene Angelegenheit. Es entsteht aus einem Defizit an Wissen. Wer romantisch bleibt, obwohl er dazulernt, der wird ein Ungeheuer. Wer nicht dazulernt, aus dem wird ein Narr. Wir beide, meine Mutter und ich, wir brachten das Kunststück zuwege, Narren und Ungeheuer zugleich zu werden. Nach einem Monat schon kehrte ich an den Abenden nicht mehr in meine Wohnung in der Alleestraße zurück, ich zog wieder zu ihr, wieder in mein Mädchenzimmer.«
Nicht daß sie glaubte, die Philosophie könne dem Leben einen Sinn geben. Sie sah in ihr nichts weiter als eine zeitvertreibende Beschäftigung, die ohne körperliche Anstrengung durch schieres Denken bewältigt werden könnte. Kuni Herzog suchte Dr. Reinach auf. Der war Privatdozent und galt als Koryphäe der neuen Philosophie. Er war die rechte Hand von Edmund Husserl. Wenn Husserl Gott war – »was seine Jünger zwar geleugnet hätten, woran sie aber glaubten« –, dann war Reinach sein Prophet. Außerdem verwaltete er die Finanzen der Philosophischen Gesellschaft, eines privaten Zirkels, der aus eigenem Vermögen neben den universitären Veranstaltungen Seminare abhielt, wozu Vortragende aus dem weiten Europa eingeladen wurden (zum Beispiel der damals in akademischen Kreisen geächtete Max Scheler). Kuni Herzog versprach, die Gesellschaft finanziell zu fördern, wenn ihr Dr. Reinach einen Vergil auf dem Weg durch die Philosophie vermittle, den sie selbstverständlich gesondert bezahlen wolle. Dr. Reinach nannte ohne Zögern die Studentin Edith Stein. Erstens könne die junge Frau das Geld brauchen, zweitens sei, darauf verwette er seine Erstausgabe von Hegels Logik , im ganzen Reich eine Bessere für diese Aufgabe nicht einmal vorstellbar. – Man vereinbarte ein Treffen bei Cron und Lanz.
Edith Stein arbeitete an ihrer Staatsexamensarbeit, die sie zu einer Dissertation auszuweiten gedachte: Das Problem der Einfühlung aus phänomenologischer Sicht . Als Kuni Herzog bemerkte, da sei das Fräulein Dissertantin bei ihr genau an der richtigen Adresse, an ihr könne sie praktische Studien vornehmen, denn es werde wohl eine Menge an Einfühlung notwendig sein, um zu kapieren, warum es einer Frau, der es so gut gehe, so schlecht gehe, antwortete Edith Stein, die die gallige Ironie entweder nicht verstand oder aber ignorierte, Einfühlung sei in ihrer Arbeit keine psychologische, sondern eine erkenntnistheoretische Kategorie, nämlich im Sinne von Husserls These (er – wer sonst – war ihr Doktorvater), daß objektive Außenwelt nur intersubjektiv wahrgenommen werden könne, wobei sich die wahrnehmenden Subjekte weder lieben noch ehren, nicht einmal kennen müssen; ja, daß Einfühlung, so verstanden, sogar über den Tod hinaus stattfinden könne, einerseits zurück in die Vergangenheit – »wenn ich Platons Dialoge lese, fühle ich mich über zweieinhalbtausend Jahre hinweg in seine Personen ein und gelange dadurch zu Erkenntnissen über ihre Wirklichkeit« – als auch vorwärts in die Zukunft gerichtet – »sollte dereinst sich jemand finden, der meine Dissertation, sollte sie je fertig werden, lesen wird …«.
»Entweder sie ist depressiv oder kalt wie ein Wetzeisen«, berichtete Kuni Herzog ihrer Mutter. Die hielt das für eine höchst erotische Mischung, und sie lud das Fräulein Stein zu einem Abendessen in ihr Haus ein, schriftlich.
Kuni Herzog: »Ich gab die Einladung weiter, und das Fräulein Stein fragte mich, was für eine Weltanschauung meine Mutter habe. Ich sagte: Meine Mutter bekennt sich zu einer Art skeptischem Naturalismus als Lebensphilosophie. Was ich darunter verstehe, fragte sie. Nun ja, sagte ich, sie ist nicht fromm und sieht in den Menschen wilde Tiere.«
2
An diesem Abend lernte Carl Edith Stein kennen.
Er war seit zwei Wochen bei seinen Tanten in Ferien und hatte bereits genug. Die Hysterie, mit der die beiden in jedem seiner Worte, in jeder
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