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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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seiner Gesten, bereits in jedem seiner Blicke einen Ausdruck des wahren, ungekünstelten, unverdorbenen alpinen Lebens zu erkennen wähnten, auf den sie sich stürzten, den sie beredeten und zerlegten, als ließe sich daraus ein rettendes Elixier destillieren, bewirkte, daß er selbst anfing, sich zu beobachten, und davon wurde er grundunglücklich, weil er alles mögliche an und in sich entdeckte, nur nicht seinen gewohnten Denk- und Gesprächspartner. Nach dem ersten Blickwechsel mit dem Fräulein Stein wußte er, sie war auf seiner Seite. Seine Tanten hatten ihm extra für diesen Abend einen kurzärmeligen königsblauen Matrosenanzug besorgt – solche Kleidungsstücke für Kinder hatten in diesen Wochen patriotisch reißenden Absatz, weil es inzwischen ja auch gegen die Seemacht England ging. Fräulein Stein saß allein im Eßzimmer am Tisch. Mutter und Tochter waren schnell in die Garderobe geeilt, um irgendwelche Striche in ihrem Gesicht nachzuziehen. Sie trug eine weiße Bluse über einer ähnlich matrosenblauen Weste, die beiden Krägen waren akkurat übereinandergelegt. Ihr Oberkörper wirkte etwas eingesunken, die Hände hielt sie im Schoß. Wohl fühlte sie sich gewiß nicht.
    Als sie ihn hinter sich hörte, drehte sie sich um und ergriff mit beiden Händen die Lehne ihres Sessels. »Du bist Carl Jacob«, sagte sie und lächelte ihn an.
    »Carl Jacob Candoris«, stellte er sich vor und vollführte einen perfekten Diener. »Guten Abend, Fräulein Stein.«
    »Setz dich neben mich!« lud sie ihn ein. »Damit ich nicht so allein hier bin. Und sag du zu mir. Ich möchte, daß du Edith zu mir sagst.«
    »Lieber nicht, wenn meine Tanten anwesend sind«, sagte er.
    »Und warum nicht?«
    »Ich glaube, es gehört sich nicht für mich.«
    »Das sehe ich anders. Ich bin näher bei dir als bei deinen Tanten. Was das Alter betrifft, meine ich. Wie alt bist du?«
    »Acht Jahre.«
    »Und ich bin dreiundzwanzig. Gerade einmal fünfzehn Jahre liegen dazwischen. Das ist nicht viel.«
    »Tante Kuni ist aber zweiunddreißig. Zwischen Ihnen und ihr liegen nur neun Jahre.«
    »Das ist richtig. Aber du hast den Plural verwendet, du hast gesagt, du möchtest mich vor deinen Tanten nicht duzen. Also mußt du ihr Alter zusammenzählen.«
    »Vielleicht darf ich Sie morgen duzen, das würde ich gern«, sagte er.
    »Gut«, flüsterte sie, denn die Tanten waren hereingekommen, »morgen.«
    Tante Franziska ließ eine lange Speisenfolge auffahren. Dem Dienstmädchen hatte sie ausdrücklich verboten, zu sprechen oder dem Gast in die Augen zu schauen. Sie hatte sich fein hergerichtet und war aufgedreht und zappelig wie ein Backfisch. Von Anfang an führte sie das Wort, und sie richtete es nur an das Fräulein Stein. Sie sah mit ihren Mitte fünfzig immer noch gut aus, abgesehen von den diabolischen Augenringen, die sie mit Schminke sogar noch betonte, weil sie der Meinung war, Schönheit ohne eine Ahnung von Häßlichkeit sei langweilig. Sie trug ein Kleid aus dunkler Seide, das, wenn es sich in Falten legte, in alle möglichen Farben spielte. Um den Saum war eine Fransenborte genäht, fein wie Flaum, die sich beim kleinsten Windhauch bewegte, was ihre Tochter obszön fand. Das Kleid stand ihr fabelhaft. Vornehm und verheert sah sie darin aus, und genau so wollte sie aussehen. Sie hatte ihrem Busen von unten her etwas nachgeholfen, das war damals nicht Mode, aber um Mode kümmerte sie sich nicht, sie wußte, was die Männer mochten; und was die Frauen mochten, wußte sie ebenfalls. Das war eines ihrer Lieblingsthemen: Frauen wollen das gleiche wie Männer, sie geben es nur nicht zu, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.
    Beim Essen ging es hauptsächlich um den Krieg. Zu Kunis Erstaunen zeigte sich ihre Mutter mit militärischen und politischen Details durchaus vertraut, so daß sie ohne Peinlichkeit ihrem Gast Paroli bieten konnte; darauf kam es ihr nämlich an: durch eine im Grundton zynische, in der Melodie possierliche Gegenrede zwischen ihr und dem Fräulein Stein eine Spannung zu erzeugen, wobei sie den Bogen in der Hand hatte – und auch die Pfeile, falls es darauf ankam, jemanden abzuschießen. Sie habe ja gar nichts gegen den Krieg, sagte sie, nur sollte er intelligent geführt werden. »Warum haben wir den Belgiern denn nicht einfach Miete für die Straßen bezahlt, auf denen unsere Soldaten nach Frankreich marschieren wollen?« – »Wir haben ihnen ja Geld angeboten«, entgegnete das Fräulein Stein, »aber sie wollten es

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