Aber dann kam der Sommer
Überschrift: Verständnisvoller Freund’ oder ,Erleichtern Sie Ihr Herz’! So eine Art Briefkastentante willst du für mich sein.“
„Genau das! – Und sei nur nicht zu bescheiden oder gar unterwürfig! Ich gehe jede Wette ein, daß du mehr Grütze im Kopf hast als alle deine Millionäre zusammen. Und letzten Endes ist es doch gerade diese Grütze, auf die es ankommt.“
Ach, du weise Nora! Du hättest bloß Mäuschen sein sollen in der Zeit, die bald folgte!
„Im übrigen werde ich schreckliche Sehnsucht nach dir haben“, sagte Nora abschließend und biß den Nähfaden durch. „So, jetzt ist diese Bluse von links fast ebenso fein wie von rechts, und das hast du mir zu verdanken. – Nun muß ich nach Hause.“
„Bleibst du denn heute abend nicht hier, Nora?“ fragte Mutti. „Es ist doch Donnerstag.“
„Willst du damit etwa sagen, daß ihr Ibsen-Abend habt, Tante Björk? Zwei Tage vor Unnis Abreise?“
„Wir können doch Vater nicht um seinen Ibsen-Abend betrügen“, meinte Mutti lachend, „seit sieben Jahren halten wir ihn jeden Donnerstag.“
„Ich bleibe!“ sagte Nora und lief ans Telefon.
*
Ibsen-Abend im Hause Björk!
Diesmal hatten wir uns „Rosmersholm“ vorgenommen. Vati saß im Ledersessel mit einer verschlissenen Erstausgabe in der Hand. Er las den Rektor Kroll. Ab und zu mußte er auf den Ulrik Brendel umschalten, denn es fehlte uns an männlichen Kräften, seit Onkel Studienrat in eine andere Stadt versetzt worden war. An diesem Abend durfte Tor mitwirken. Er platzte fast vor Stolz, denn es war ihm die Rolle des Rosmer zugeteilt worden.
Mutti saß mit der Jubiläumsausgabe unter der Stehlampe in der Ecke. Sie las die Madame Helseth. Und in Anbetracht der Tatsache, daß es für viele Monate mein letzter Ibsen-Abend sein würde, hatte ich die Rebekka bekommen. Das war sonst Esthers Rolle. Diesmal saß sie neben Nora, und die beiden blickten zusammen in ein abgegriffenes Exemplar aus der Bibliothek, um mit Augen und Ohren zu folgen. Wenn die Szenen mit Mortensgard kamen, machte Nora ihre Stimme tief und las seine Repliken.
Jetzt kam der erste Auftritt Ulrik Brendels. Ich höre es an Vatis Stimme, wie er diese Szene genießt. Ich erinnere mich, daß er einmal darüber sagte: „Es gibt zwei kleine Szenen, die ich mir immer wieder vornehmen und mich daran erfreuen kann, und das sind die des Brendels in Rosmersholm.“
Ich denke daran zurück, wie wir „Peer Gynt“ gelesen haben. Es war der Winter, in dem ich zum erstenmal an den Ibsen-Abenden teilnehmen durfte. Ich debütierte als „Das grüngekleidete Mädchen“. Ich denke an unsere Lesungen der Ibsen-Dramen „Brand“, „Die Wildente“, „Die Kronprätendenten“… Oh, wieviel Freude haben wir immer an diesen Donnerstagabenden gehabt! Andächtig haben wir dagesessen und gelauscht, wenn Vati uns alles erklärte. So haben wir zusammen gelernt, diese „kostbarsten Schätze unserer Literatur“, wie Vati zu sagen pflegt, zu verstehen und zu genießen.
Denn Vati ist ein Ibsen-Verehrer mit Leib und Seele, und er hat uns gelehrt, es ebenfalls zu sein. Esther gelang es einmal in der Literaturgeschichtsstunde, ihren Klassenlehrer derartig an die Wand zu spielen, daß er kopfschüttelnd aufgab und lächelnd meinte:
„Es war aber auch leichtsinnig von mir, mich mit einer Tochter von Rektor Björk in eine Diskussion über Ibsen einzulassen.“ Und er notierte ein „Sehr gut“ für Esther.
Zurück zu unserem heutigen Abend und „Rosmersholm“! Madame Helseth – will sagen, meine Mutter – schlich leise hinaus, um Wasser für den Tee aufzusetzen. Nach jedem Akt pflegen wir nämlich Tee zu trinken und Kekse zu essen. Dabei diskutieren wir über das, was wir eben gelesen haben. Da fliegen Zitate durch die Luft, da kreuzen sich heftig die Meinungen – doch am Ende sitzen wir alle stumm da und hören zu, was Vater sagt. – Denn er kennt seinen Ibsen.
Während der Vater diesmal die Figur des Johannes Rosmer charakterisierte, glitt mein Blick in der Stube umher: Die Mutter, schon ein wenig grau an den Schläfen, aber mit jungen, wachen Augen hinter den Brillengläsern – Tor, strubbelig, lang und ungelenk und zur Zeit im letzten Stadium des Stimmbruchs – Esther, schlank, groß und hübsch, mit Vaters gerader Nase und Mutters lebhaften Augen und mit hoher, kluger Stirn – und Nora, die gleichsam zur Familie gehört, seit sie und ich mit Eimerchen und Schaufel im Sandkasten gebuddelt, die Höschen naßgemacht
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