Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
kleinen Bubacher Verpackungsmittelbetrieb an. Nun konnte sie zu Fuß zur Arbeit gehen, während Robert mit der S-Bahn zu seiner Schule im Stadtrandgebiet fuhr und ihr den Wagen ließ, falls sie ihn für Johann brauchte.
Alles war gut.
Nur dass auf Johann kein zweites Kind folgte, das machte Marie zu schaffen.
Es quälte sie. Wie jedes Einzelkind hielt sie es für eine Tragödie, ohne Geschwister aufzuwachsen. Sie hatte es als selbstverständlich angesehen, dass Johann nicht ihr einziges Kind bleiben würde. Aber es war so. Die Ärzte sagten, es gebe keine medizinische Erklärung dafür. Eine Weile versuchten Robert und Marie alles – Marie eigentlich mehr als Robert, aber das nahm sie ihm nicht übel. Doch irgendwann verließ auch sie die Hoffnung. Marie überlegte, ob sie ein Kind adoptieren sollten. Aber Robert sperrte sich. Erst nur zaghaft, dann aber so vehement, dass Marie verstand: Es blieb dabei.
Sie hatte gehofft, dass sich seine anfänglich ablehnende Haltung zu Kindern legen würde, wenn sie wirtschaftlich wieder besser dastanden. Zudem hing Robert sehr an seinem kleinen Sohn Johann. Aber er wollte kein zweites Kind.
Umso mehr kümmerte Marie sich um Johann. Der Junge wuchs sehr behütet auf. Wenn er krank war, blieb sie zu Hause, egal, was sie bei dem Tütenhersteller sagten. Sie waren dort auf Marie angewiesen, nicht umgekehrt. Robert verdiente als Lehrer nun genug Geld. Da sie keine Miete zahlten und auch sonst nicht viel brauchten – im Sommer lebten sie quasi von Roberts Biolandbau –, hätte Marie auch aufhören können zu arbeiten.
Als Johann acht Jahre alt war, begann er, sich von Marie zurückzuziehen. Seine Mutter schien ihm mit ihrer Fürsorge ein wenig auf die Nerven zu gehen. Er sagte das nicht, aber sie spürte es. Er schloss neue Freundschaften in der Schule und verbrachte mehr Zeit draußen. Er bekam ein Fahrrad und war immer unterwegs. Zum Fußballplatz, zu einem Bauernhof, wo die Jungen aushelfen durften, zu den Klassenkameraden, die alle in Bubach oder der näheren Umgebung wohnten.
Marie stand schlimme Ängste durch. Sie hatte Angst, dass er mit dem Fahrrad, das sein Vater ihm geschenkt hatte, unter einen der riesigen Trecker kam, mit denen die Bauern der Gegend ihrer Meinung nach ziemlich rücksichtslos durch den Ort rasten. Sie hatte Angst, dass er sich auf einem der Höfe, wo monströse Maschinen im Einsatz waren, verletzen könnte. Obwohl sie selbst in Bubach aufgewachsen und mit der Landwirtschaft vertraut war, hatte sie Angst, dass er von einem großen Stalltier angegriffen werden könnte. Oder dass er beim Spielen vom Heuboden fiel. Dass ihn ein Linienbus erfasste. Oder einer der jungen Motorradrowdys auf ihren schweren Maschinen, die wie Hornissen durch den Ort schwirrten.
Nur daran, dass das geschehen könnte, was dann geschah, dachte sie nicht.
Johann war um 19 Uhr nicht zu Hause gewesen.
Um 19 Uhr aßen sie. Jeden Abend. Marie schnitt frisches Brot und nahm die selbst gerührte Butter aus dem Kühlschrank. Sie schnitt von dem Schinken ab, den Robert im Räucherhaus aufbewahrte und den Johann liebte, weil man an den Scheiben nuckeln konnte. Sie kochte Tee aus den selbst gezogenen Pfefferminzpflanzen, die so stark rochen und so intensiv schmeckten, dass selbst der Junge sie mochte. Sie schnitt eingelegte Gurken auf und rührte frischen Quark an.
Als sie fertig war, war Johann immer noch nicht da.
Sie ging zum Fenster und schaute die Straße hinunter. Manchmal sah sie ihn kommen. Er war immer müde vom Toben und musste sich anstrengen, auf dem Rad die leichte Steigung zu ihrem Haus hoch zu bewältigen.
Johann war nicht zu sehen.
Um zehn nach sieben kam Robert aus seinem kleinen Arbeitszimmer, wo es streng roch und er seine Schulstunden vorbereitete. Er begann sofort zu schimpfen.
»Jetzt reicht es. Der Junge wird immer dreister. Viertel nach. Dabei weiß er, dass wir um Punkt sieben zu Abend essen. Das gibt erst mal Hausarrest für die nächsten Tage.«
Marie sagte: »Du bist doch auch zu spät.« Sie wollte die Situation entkrampfen. Aber Robert wurde nur noch wütender: »Natürlich musst du ihn auch noch verteidigen. Deshalb kann er sich ein solches Benehmen ja auch erlauben. Weil er weiß, du hältst zu ihm.«
Sie schwiegen beide, setzten sich aber nicht an den gedeckten Tisch. Solange Johann noch nicht da war, würden sie das nicht tun. Wenigstens das, dachte Marie.
Draußen dämmerte es bereits. Langsam wurde auch Marie wütend. Johann wusste doch, dass
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