Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
sie sich Sorgen machte. Dass sie sich immer Sorgen machte. Auch wenn ihm das auf die Nerven ging, so konnte sie doch wenigstens verlangen, dass er sie nicht warten ließ. Nicht um diese Zeit.
Halb acht. So spät war Johann noch nie nach Hause gekommen.
Robert wählte die Handynummer des Jungen. Marie war dagegen gewesen, dass er ihm ein Handy kaufte. Jetzt war sie heilfroh. Wie einfach das war. Man rief sein Kind an, wenn es spät dran war. Schon wusste man, woran man war.
Robert wartete. »Der kann sich auf etwas gefasst machen«, stieß er hervor. Er klang wie kurz vorm Ersticken. Warum war er immer so angespannt?
Dann drückte er die Verbindung weg. »Abgeschaltet. So ein Blödian. Wieso habe ich ihm ein Handy gekauft, wenn er es immer abschaltet?«
Marie spürte, dass sich alles in ihr zusammenzog. In solchen Situationen tat jeder Atemzug weh. Es war, als würde eine Schraubzwinge ihren Brustkorb zusammendrücken. Die kleinste Aufregung schlug ihr sofort auf die Lunge. Schon als Kind.
Robert sprach kein Wort mehr. Er kochte vor Wut. Marie fürchtete, dass er den Jungen hart bestrafen würde. Aber noch mehr Angst hatte sie davor, dass Johann nicht kam. Dass er einfach nicht nach Hause kam. Vielleicht sogar aus Angst vor Robert, vor seinem Vater.
In letzter Zeit verstanden sich die beiden nicht besonders. Johann muckte auf. Und Robert fand, dass der Junge sich zu viel herausnahm. Er wollte, dass auch Marie strenger mit ihrem Sohn war. Aber Marie konnte das nicht. Sie verstand Johann ja. Auch ihr behagte Roberts Härte nicht. Sie fand, dass sie unverhältnismäßig war. Und sie vermutete, dass es Robert gar nicht um den Jungen ging. Marie hatte ihren Mann in einem schrecklichen Verdacht: Wollte er mit seiner Härte gegen Johann nicht sie strafen? Möglicherweise dafür, dass sie das Kind zur Welt gebracht hatte, obwohl er dagegen gewesen war – obwohl es ihm wirtschaftlich schlecht ging damals.
Wenn jemand sie wirklich treffen wollte, dann gelang ihm das am besten über Johann.
Marie musste etwas tun. Sie konnte es nicht zulassen, dass die Angst weiter so ungebremst in ihr wütete. Irgendwann war sie nur noch eine Hülle, in der sich fremde Kräfte austobten. Dann war sie nicht mehr dazu fähig, etwas zu unternehmen. Also musste sie es jetzt tun.
Sie ging in Johanns Zimmer und lüftete es. Dann zog sie die Klassenliste aus der obersten Schublade des Schreibtisches. Sie setzte sich auf den kleinen Stuhl und begann zu telefonieren.
Marie riss sich zusammen. Auf keinen Fall durfte sie panisch klingen. Sie sprach mit anderen Müttern, und sie wusste, dass diese Art von Panik sich unter Müttern leicht übertrug. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie die Angst weiterverbreitete und sich dann in der nächsten Viertelstunde herausstellte, dass alles nur ein Fehlalarm war. Wer sich so etwas erlaubte, den behandelten sie in Zukunft mit Vorsicht. Marie wusste, dass jeder falsche Ton auf Johann zurückfallen würde.
Es gelang ihr. Keine der Mütter schöpfte Verdacht.
Es kostete Marie drei Anrufe. Dann wusste sie, dass Johann den späteren Nachmittag bei seinem Freund Leo verbracht hatte – zum Leidwesen von Leos Mutter am Computer. Johann war um zehn vor sieben nach Hause aufgebrochen. Mit seinem Rad. Er fuhr immer mit dem Rad.
»Ist er denn noch nicht zu Hause?«, fragte Leos Mutter. In ihrer Stimme hatte sich ein gefährlicher Unterton eingeschlichen.
Wie spät war es mittlerweile?
Viertel vor acht.
»Er kommt gerade die Tür herein. Na, der kann sich auf was gefasst machen.« Marie legte etwas zu schnell auf.
Robert erschien in der Tür. »Und?«
»Er war bei Leo. Bis kurz vor sieben.«
Robert sagte nichts. Aber Marie sah ihm an, dass er nun auch Angst hatte.
Das war schlimmer als alles andere: Als das Geschimpfe und die Drohungen. Robert hatte Angst um Johann. Robert, der sonst nie Angst hatte.
Er ging hinaus und kam wenig später in seiner Jacke zurück. »Ich fahre den Weg ab.«
Marie sprang auf. »Warte! Ich komme mit.« Warum? Um zu verhindern, dass er Johann bestrafte, wenn er ihn fand?
»Bleib du mal hier!«
Marie wollte schon protestieren, doch dann fügte Robert fast sanft hinzu: »Sonst ist niemand da, wenn er in der Zwischenzeit nach Hause kommt. Oder wenn er anruft.«
3
Selbst wenn Marie gewollt hätte – sie hätte es niemals geschafft, vom Fenster wegzukommen. Sie wusste, wie lange Robert für den Weg zum Haus von Leos Eltern und zurück brauchen würde. In ihrem Kopf lief
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