Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
erreicht. Der Kofferraumdeckel stand offen. Die beiden Männer in den weißen Overalls beugten sich hinein. Sie trugen transparente Handschuhe.
Marie wurde langsamer, sie blieb aber nicht stehen. Sie dachte nicht daran stehen zu bleiben. Ihr Programm trieb sie an: leise, aber unerschütterlich. Sie musste es tun. Sie war die Mutter. Sie durfte sich nicht »schonen« lassen, was immer Robert damit auch meinte.
Im Kofferraum brannte ein schwaches Licht. Es sah fast gemütlich aus. Vor allem wegen der graublauen Teppichbodenreste aus ihrem Schlafzimmer, die Robert fachgerecht in seinen Kofferraumboden verlegt hatte. Früher hatte sie diesen Ordnungssinn an ihm gemocht, jetzt widerte der Teppichboden im Kofferraum sie an.
Die weißen Männer hatten es fast geschafft. Sie hatten das Fahrrad in zwei Plastikplanen eingeschlagen. Einer stopfte noch die giftgrüne Strickmütze dazu. Sie gehörte Johann. Ebenso wie das Fahrrad.
5
Marie saß in der Küche am Fenster und schaute hinaus. In die Dunkelheit.
Sie wartete. Die ganze Nacht.
Sie hatte mit Robert gestritten. Im Beisein der Polizisten und auch noch, als die Polizisten schon gegangen waren. Möglicherweise waren sie auch deshalb gegangen: Weil Marie unentwegt mit Robert gestritten hatte.
Es war um das Fahrrad und um die Mütze gegangen. Marie hatte Robert vorgeworfen, dass er sie im Unklaren gelassen hatte und dass das schlimmer gewesen sei als die Wahrheit. Die Wahrheit, dass er Johanns Fahrrad auf halbem Weg zwischen seinem Freund Leo und seinem Zuhause gefunden hatte. Am Straßenrand. Einfach hingeworfen. Und die Mütze – seine giftgrüne Lieblingsmütze, die er fast nie auszog, die er oft beim Essen und manchmal sogar nachts im Bett anließ, so dass sie schon unangenehm zu müffeln begann – diese Mütze hatte Robert nur wenige Meter weiter im Straßengraben gefunden. Und er hatte beides einfach in den mit blaugrauen Teppichbodenresten ausgelegten Kofferraum seines Wagens gelegt und war nach Hause gefahren. Er hatte den Wagen mit dem Fahrrad und der Mütze seines Sohnes in der Auffahrt geparkt und war ins Haus gegangen, wo Marie auf ihn gewartet hatte.
Und er hatte Marie nicht gesagt, dass er das Fahrrad und die Mütze Johanns am Straßenrand gefunden hatte. Weil er sie »schonen« wollte. So hatte er das formuliert.
Marie ahnte, was er damit meinen könnte. Dass die Wahrheit über ihre Kräfte ging. Dass er sie nicht damit konfrontieren wollte. Aus Rücksicht auf ihre Nerven. Dass er ihr Zeit lassen musste, das zu verstehen, was nicht zu verstehen war.
Aber sie war die Mutter von Johann. Ihr stand es zu, die Wahrheit über sein Verschwinden zu erfahren. Sie war stark genug. Jede Mutter war stark genug.
Marie spürte, dass Robert sich etwas vormachte. Er wollte nicht sie, er wollte eigentlich sich schonen. Er konnte jetzt keine Tränen und keinen Nervenzusammenbruch brauchen. Robert wollte sich auf das in seinen Augen Wichtigste konzentrieren. Dabei sollte Marie ihn nicht stören. Deshalb hatte er sie außen vor gelassen – nicht um sie zu schonen, wie er behauptete. So war Robert eben; er machte am liebsten alles mit sich selbst aus und hasste es, dabei von Marie gestört zu werden.
Die Polizisten waren übrigens auch nicht gerade begeistert von Roberts Eigenmächtigkeit. Sie hätten es vorgezogen, wenn er Fahrrad und Mütze nicht angerührt und dort liegen gelassen hätte, wo er sie gefunden hatte. Das andere – dass er seiner Frau davon nichts gesagt hatte – interessierte sie nicht. Irgendwie hatte Marie den Eindruck, dass dieser Fürbringer sowieso der Meinung war, dass man Marie so weit wie möglich von den Ermittlungen fernhalten sollte. Wahrscheinlich hielt er sie für leicht hysterisch. Und der Streit, den sie mit Robert wegen des Fahrrads vom Zaun gebrochen hatte, hatte ihn in dieser Haltung noch bestärkt.
Aber welche Frau würde sich so etwas gefallen lassen? Dass der eigene Mann ihr Informationen über den Verbleib ihres vermissten Kindes vorenthielt. Musste man auf so etwas nicht hysterisch reagieren?
Irgendwann hatte Robert nichts mehr zu sagen gehabt. Er war in Johanns Zimmer verschwunden. Marie hätte ihn in dieser Nacht sowieso nicht an ihrer Seite ertragen können. Allerdings fand sie es rücksichtslos von ihm, Johanns leeres Bett für sich zu okkupieren. Hatte Marie nicht das gleiche Recht darauf, in dieser Nacht im Bett ihres Sohnes zu schlafen – oder vielleicht sogar ein noch größeres als der Vater? Da Marie aber sowieso
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