Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
»Versicherung?«
»Der Wagen.«
»Ach so. Die in der Werkstatt haben gesagt, sie setzen einfach eine andere Stoßstange drauf. Wahrscheinlich muss der Kotflügel noch ausgebeult werden. Es ist ja nicht so ein großer Schaden wie an Ihrem Wagen. Wollen wir nicht einfach Du sagen? Ich bin die Lore.«
Das überraschte Marie. Sie hob den weißen Porzellanbecher und stieß mit Lore an. »Sagen wir Du! Ich bin Marie.«
Sie tranken und sahen aus dem Fenster. Fast schon wie alte Freundinnen.
»Momentan läuft es wirklich gut«, begann Lore, ohne ihren Blick zu wenden. »Ich habe Aussicht auf eine Arbeit. An der Kasse eines Supermarktes. Früher musste ich putzen. Es beginnt mir hier zu gefallen. Und dann hab ich dich kennengelernt. Das ist fast schon zu viel Glück auf einmal. Für meine Verhältnisse jedenfalls.« Sie lachte verlegen.
Dann schaute sie auf die Tischplatte und verzog den Mund. »Weißt du, drüben, also im Osten, da lief es gar nicht gut für uns. Ich war ziemlich verzweifelt. Ganz auf mich allein gestellt. Mit dem Jungen. Unterhalt habe ich nie bekommen all die Jahre. Zum Schluss habe ich meine Wohnung verloren und musste mit Kevin zu meinen Eltern ziehen. Das war schwierig, sehr schwierig. Und dann kam Tom.« Sie lachte. »Also, er kam nicht einfach. Wie hätte er von hier aus auch nach Chemnitz kommen sollen? Nein, wir haben uns im Internet kennengelernt. Ich dachte erst, das ist jetzt einer dieser Westmänner, die sich Frischfleisch im Osten besorgen wollen. Aber ich stellte schnell fest, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Die Natur. Tiere. Reisen. Wir haben uns dann getroffen. Tom musste beruflich nach Dresden. Und da hat es gleich gefunkt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht allein bin. Dass ich einen Jungen habe. Weißt du, was er darauf entgegnet hat? ›Umso besser‹, hat er gesagt. Umso besser!«
Marie verschluckte sich beim Trinken. Sie bekam einen Hustenanfall und sprühte kleine Tropfen Milchkaffee über den Tisch. Die Bedienung kam mit einem Lappen. Marie war das peinlich.
Lore lächelte. Sie wartete, bis Marie sich wieder beruhigt hatte.
»Dann haben wir eine kleine Reise gemacht. Nach Hiddensee. Im Winter. Zu dritt. Kennst du Hiddensee im Winter? Den Dornbusch? Den Leuchtturm?«
Marie schüttelte den Kopf. Sie kannte Hiddensee auch nicht im Sommer.
»Tom und Kevin waren sofort Freunde. Und du wirst es nicht glauben: Das hat sich bis heute nicht geändert. Manchmal denke ich, Tom hat mit dem Jungen mehr Spaß als mit mir.«
Jetzt lachte Lore laut. Marie konnte nicht lachen. Sie hustete schon wieder.
»Weißt du, in meinem Leben hat es schon einige Männer gegeben. Nach Kevins Vater, meine ich. Aber keiner hat sich so um den Jungen gekümmert. Und das ist doch wichtig für eine Frau, oder?«
Marie nickte. Sie konnte Lore nicht in die Augen sehen. »Hast du ein Foto von ihm?«
»Von Tom?«, fragte Lore.
»Nein, von Kevin natürlich.«
Lore begann in ihrer Umhängetasche zu kramen. »Von Tom habe ich auch eines. Aber das zeige ich dir nicht.« Zum ersten Mal fiel Lore in den Dialekt der Region, aus der sie stammte. »Von dem musst du schön deine Fingerchen lassen. Das ist mein bestes Stück. Da darf keine andere drantatschen, verstehste?«
»Natürlich«, beteuerte Marie ernst.
Doch Lore brach in ein noch helleres Lachen aus. »Das war doch nur ein Witz.« Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Ein kleines Ledermäppchen. Sie klappte es auf. Innen war es eine Art Leporello. »Was willst du sehen? Kevin als Baby. Als Schulanfänger? Oder Kevin heute?«
»Heute«, sagte Marie heiser.
Lore blätterte, dann drehte sie das Mäppchen und schob es Marie hin.
Marie sah es sofort. Der Junge war Johann wie aus dem Gesicht geschnitten. Unglaublich. Wie Johann vor etwa zwei Jahren. Aber er war nicht Johann. Kevin war Johanns Doppelgänger. Oder so etwas Ähnliches.
Und Johann war tot. Seit einem Jahr.
Marie wurde es schwindlig.
»Ist dir nicht gut?«
»Doch, doch, es ist nur …« Marie winkte die Bedienung, die schon aufmerksam geworden war, heran und bestellte ein Wasser. Das Wasser kam sofort. Marie trank es in einem Zug aus.
»Besser?«
»Ja, besser.«
Lore packte das Leporello weg. Sie schloss ihre Tasche und stellte sie wieder neben sich. Dann fiel ihr was ein. »Was hältst du davon? Ihr kommt am Sonntag zu uns. Zu Kaffee und Kuchen. Tom macht eine Torte – das kann der wirklich. Wär das was?«
Jetzt verstand Marie, warum Lore, was Kuchen anging, verwöhnt
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