Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
Hüften. Aber alles an ihr schien eine Nummer kleiner zu sein. Ihr Gesicht war fein geschnitten, etwas mädchenhaft, wozu der milchig-zarte Teint beitrug. Die Haare waren dafür umso kräftiger und von einem gesunden Braun. Sie schienen sorgfältig frisiert, aber wahrscheinlich gehörte Lore nur zu der Sorte Frauen, die tun und lassen können, was sie wollen: Ihre Frisur sitzt immer, sie sehen auch wie aus dem Ei gepellt aus, wenn sie am Morgen aus dem Bett steigen.
Lore war nicht schön. Dafür wirkte sie zu zerbrechlich und hatte auch einen leicht bitteren Zug um den schmalen, empfindsamen Mund. Marie hatte den Eindruck, dass sie schon viel erlitten hatte. Vielleicht auch, dass sie es sich selbst nicht leicht machte.
Marie suchte einen Anhaltspunkt. Etwas, was ihr Aufschluss darüber gab, wieso diese Frau mit dem Freund zusammen war. Gab es etwas an ihr, was auf Vorlieben des Freundes hinwies? Das war die Frage, die Marie sich stellte, während der Wasserkocher heiß wurde.
Möglicherweise war es ihr fast kindlicher, knabenhafter Körper, der ihn anzog. Aber um für ein Kind gehalten zu werden, war Lore wiederum zu feminin. Marie glaubte sogar, etwas Sinnliches an ihr zu entdecken – wie viele kleine oder schmächtige Frauen strahlte auch Lore eine natürliche Weiblichkeit aus.
Am ehesten noch ihr Gesicht. Es hatte diese Blässe und Durchsichtigkeit, wie sie Menschen nach einer schweren Krankheit haben – und manche Kinder. Wie Milch und Honig . Wenn sie sich nicht irrte, stammte der Ausdruck aus der Bibel.
Das Wasser kochte sprudelnd, der Kocher schaltete sich aus. Marie wurde durch das Zurückspringen des Einschaltknopfes aus ihren Gedanken gerissen.
Lore schaute sie erwartungsvoll an.
Marie drehte ihr schnell den Rücken zu, nahm den Wasserkocher aus der Halterung und goss das heiße Wasser vorsichtig über die Teebeutel in der Kanne. Dann stellte sie den Kocher zurück. Sie konzentrierte sich. Wie fing sie es am besten an?
»Das dauert jetzt einen Moment«, sagte sie und versuchte zu lächeln.
Lore schien die Situation weiterhin zu verwirren. Sicher fragte sie sich, warum diese fremde Frau ihr erst ungebremst ins Heck ihres Wagens gefahren war und sie nun zuvorkommend bewirtete.
»Haben Sie es eilig?«
Lore schüttelte eifrig den Kopf. Wie ein Schulmädchen, dachte Marie. Unbedarft und unsicher, ja verängstigt wie ein Schulmädchen. Genau – das war es, was der Freund an ihr mochte. Aber Johann war kein Schulmädchen. Er war ein Junge, ein sehr selbstsicherer Junge sogar.
Marie stellte zwei Unterteller und zwei ihrer Sammeltassen auf den Tisch. Sie benutzte sie sonst nie, sie standen nur als Zierde im Glasschrank. Aber sie wollte, dass Lore sich wohlfühlte, dass sie sich entspannte und endlich zu erzählen begann.
»Wohnen Sie hier in der Nähe?«
Lore antwortete einen Tick zu schnell: »Im Norden der Stadt. Ich fahre aber in den neuen Supermarkt zum Einkaufen.« Und als Marie darauf nichts entgegnete, fügte sie hinzu: »Dort ist das Angebot größer als bei uns.«
Marie war ihr dankbar über diese Auflockerung der angestrengten Atmosphäre. »Ja, das finde ich auch. In Bubach gibt es keine Frischfischtheke und keine vernünftige Auswahl an guten Weinen. Und dann ist auch noch alles etwas teurer.«
Lore sah sie verständnislos an. »Sind Sie von hier?«
Marie nahm neben ihr Platz. Sie schenkte Tee aus. »Ich bin hier geboren. Das hier …« Sie machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das ist mein Elternhaus. Wir haben es vor ein paar Jahren übernommen und renoviert.«
Dabei hatten sie einfach nur den alten Kram entsorgt und alles neu gestrichen. Aber Lore zeigte zum ersten Mal einen Anflug von Begeisterung. »Schön.«
Marie tat Zucker in ihren Tee und rührte. »Und Sie?«
Auch Lore nahm sich Zucker. Sie seufzte leicht. »Ich bin erst kürzlich in die Stadt gekommen.« Sie nippte am Tee, stellte die Tasse aber schnell wieder zurück – sie hatte sich den Mund verbrannt. »Ich komme aus Chemnitz.«
»Aus dem Osten«, sagte Marie, als wäre das heutzutage noch eine Besonderheit.
»Ja, aus den neuen Bundesländern. Mein Sohn und ich, wir dachten, wir versuchen es mal im Westen. Ich hatte lange keine Arbeit, und da, wo wir bisher wohnten, sind viele Menschen weggezogen. Praktisch alle Kameraden von Kevin sind mit ihren Eltern in den Westen gegangen …«
Kevin. Sie hatte also einen Jungen, der Kevin hieß.
»Wie alt ist Ihr Junge?«
»Elf. Fast zwölf.«
Genau so alt, wie
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