Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
die Straße für Marie frei zu machen.
Marie blieb nichts anderes übrig. Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam aus der L kw-Parklücke. Hinter ihr wartete schon ein Brummi. Der Deckel seines vertikalen Auspuffrohrs klapperte nervös.
Marie ließ die Scheibe herunter. »Meine Freundin. Sie ist …«
Der Uniformierte brüllte sie an: »Die ist einfach pinkeln. Nun aber hoppla!«
Marie legte den ersten Gang ein und fuhr los.
Allein. Ohne Lore.
Sie suchte im Rückspiegel nach ihr.
Der Truck tuckerte langsam heran. Der Polizist wirkte dagegen ganz klein, wie vor einem Ozeanriesen.
Maries Augen suchten die Buchten ab, sie schauten unter die Bäume, wo im Dunkeln Bänke und Tische für Picknicks standen. Sie schaute sogar in die parkenden Autos. Aber Lore war nirgendwo zu sehen.
Marie überlegte. Ohne Lore konnte sie auch aufgeben und wieder nach Hause fahren. Aber Marie wollte nicht nach Hause. Sie wollte nicht zu Robert. Sie wollte nie wieder zu Robert – obwohl er ihr so leidgetan hatte wie selten zuvor, als er vor dem Haus auf der Erde gelegen hatte.
Marie wusste jetzt wieder, was sie wollte. Seit Johann verschwunden war, seit über einem Jahr, wusste sie endlich wieder, was sie wollte. Was gut für sie war.
Sie wollte den Freund finden. Sie wollte den Mann finden, der ihren Sohn in einem Kellerloch gefangen gehalten, ihn getötet und dann im Wald abgelegt hatte. Sie wollte das nicht mehr anderen überlassen, sie wollte ihn selbst finden. Das war sie Johann schuldig.
Marie hatte den Kontakt zum Freund verloren. Aber zum Glück war Lore aufgetaucht. Lore fungierte nun als ihr Medium. Sie würde ihr helfen, wieder Kontakt zu finden. Lore würde Marie den Weg zu dem Freund zeigen.
Kurz vor dem Ende der Ausfahrt stand eine Gestalt. Eine junge Frau. Im Trenchcoat. Bleich und schmal wie ein Nähfaden.
Marie trat auf die Bremse. Sie stieß die Beifahrertür auf.
Lore stieg ein.
Sie waren wieder zusammen.
16
Marie sah die Tachonadel zittern. Seit einer halben Stunde hielt sie sich bei 140 Stundenkilometer.
Sie fuhren in Richtung Gießen. Ziel war das Dorf in der Nähe der Stadt. Zumindest vorläufig. Bis sich eine frischere Spur fand. Bei Gießen hatte Lore den Freund zum letzten Mal gesehen. Also würden sie dort die Suche nach ihm beginnen.
Marie fuhr und wartete darauf, dass Lore endlich redete.
»Es war in diesem hessischen Dorf. Eines Nachts wurde ich wach. Ich dachte erst, Tom ist auf der Toilette. Oder er kann wegen der Migräne nicht schlafen und sitzt in der Küche. Doch dann hörte ich ein Geräusch. Kevin schlief nebenan. In der Kammer. Ich glaubte, mit Kevin sei was. Dass er einen Albtraum hatte oder so. Ich stand auf und ging ins Kinderzimmer. Auf leisen Sohlen. Ich wollte ihn nicht wecken. Solche Träume sind manchmal schnell wieder vorbei. Im Zimmer war es dunkel. Ich sah nichts. Ich tastete das Bett ab. Kevin schlief tief. Er war es nicht, der das Geräusch verursacht hatte. Ich spürte, dass da noch was war – in Kevins Bett. Der Körper eines Mannes. Es war Tom. Was tust du?, fragte ich ihn leise. Tom sagte, ich sollte verschwinden. Er sei gleich wieder in unserem Bett. Doch ich ließ mich nicht wegschicken. Schließlich ging es um meinen Sohn. Tom behauptete, Kevin habe nicht schlafen können.«
An dieser Stelle fragte Marie, ob Tom schon öfter zu Kevin ins Bett gekrochen sei, wenn der Junge nicht habe schlafen können.
»Nein, noch nie«, antwortete Lore schnell. »Deshalb wunderte ich mich auch. Im Übrigen hätte ich es hören müssen, wenn Kevin unruhig geworden wäre. Du weißt ja, Mütter haben für so etwas einen sechsten Sinn.«
Ja, das wusste Marie. »Weiter!«
Lore gab sich einen Ruck. Es war nicht einfach für sie. »Ich habe das Licht angeknipst und Tom gesagt, ich würde mich um meinen Jungen selbst kümmern. Er solle wieder in sein Bett gehen. Ich hatte noch nie so mit Tom geredet. So ruppig, meine ich. Um das zu unterstreichen, lüftete ich die Bettdecke. Da sah ich es.« Lore verstummte.
»Was?!«
»Er trug keine Hose. Tom hatte seine Schlafanzughose ausgezogen. Sie lag neben dem Bett. Und die Hose von Kevin hatte er bereits bis auf die Knie runtergezogen.«
Marie wagte nicht zu atmen.
Bitte, lass sie jetzt was tun, flehte sie. Lass nicht zu, dass sie selbst das hinnimmt – im Interesse des häuslichen Friedens.
»Ich habe ihm gesagt, er soll sofort verschwinden. Erst dachte ich, er schlägt mich. Er schaute mich mit Augen an, die ich noch nie
Weitere Kostenlose Bücher