Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
Komm nach Hause!«
Marie schwieg.
»Was ist mit dem Wagen?«, fragte Robert lauernd.
»Der ist in Ordnung. Ich bringe ihn dir heil zurück. Versprochen!«
Marie wusste nicht, warum sie bei Robert um Verständnis warb. Er hatte sie doch schon einmal an die Polizei verraten. Und nun belog er sie auch noch.
»Marie, komm nach Hause!«, sagte er streng. Er flehte nicht, er bat nicht. Er befahl es ihr.
Marie legte auf.
Als sie sich umdrehte, stand Lore hinter ihr.
Die Autopapiere hatte Robert immer im Handschuhfach liegen. Er war sonst pedantisch, aber davon ließ er sich nicht abbringen.
Wenn die Polizei sie wirklich anhielt – was Marie nicht glaubte, denn sie sperrten doch keine Autobahn wegen eines Wagendiebstahls –, dann konnte sie den Beamten versichern, dass sie mit Lore eine Reise machte, freiwillig und mit dem Wissen ihres Mannes, den sie soeben angerufen hatte. Dagegen konnte keiner was sagen.
Irgendwann fing Lore an zu reden.
Sie weinte, wenn sie über ihren Sohn sprach. Wenn sie über den Freund sprach, bemühte sie sich, sachlich zu klingen, was ihr allerdings nicht gelang.
Marie verstand schnell, dass Lore Tom geliebt hatte, dass sie ihn vielleicht immer noch liebte. Er hatte sie aus der Enge herausgeholt, in der sie bei ihren Eltern mit Kevin lebte. Er hatte ihnen ein neues Zuhause gegeben. Er hatte sich Lore gegenüber mustergültig verhalten – sah man mal von seinen häufigen Migräneanfällen ab. Aber auch dann hatte er sich zurückgezogen, anstatt Lore oder gar den Jungen darunter leiden zu lassen, dass es ihm schlecht ging.
»Tom ist ein Mensch, wie ich ihn noch nicht getroffen habe«, sagte Lore und bemühte sich, ihrer Stimme eine Sachlichkeit zu verleihen, die es Marie erleichterte, ihr zu glauben. »Er hat sich für uns aufgerieben. Für mich und für Kevin. Kevin war nie nur ein Anhängsel von mir. Er war ihm ebenso wichtig wie ich. Er liebt ihn.« Lore schien zu bemerken, dass das bei Marie anders ankam, als sie es beabsichtigt hatte. Sie machte eine Pause.
»Er hat viel gearbeitet. Dieser Vertreterjob war kein Zuckerschlecken. Er musste sich ganz schön abrackern. Firmen sind andere Kunden als Privatleute. Sie zahlen zwar mehr, verlangen aber auch mehr. Deshalb zögern sie auch nicht, dich am Wochenende oder nachts in Anspruch zu nehmen.«
Marie fiel ein, dass Lore ihr das schon einmal erzählt hatte. Da hatte es anders geklungen: wie eine nicht ganz glaubhafte Erklärung dafür, dass Tom oft für Tage verschwand. »Dieser Mann hat mein Kind getötet. Sie haben Johanns Leiche gefunden.«
Doch Lore blieb unbeirrt. »Du täuschst dich, Marie. Tom kann keinem Kind etwas zuleide tun. Er ist immer freundlich und interessiert sich für die Sorgen der anderen. Auch wenn es ihm schlecht geht. Und es ging ihm oft schlecht. Diese Migräne – er nannte es Migräne, es ist nie festgestellt worden, was es eigentlich ist – macht ihm das Leben zur Hölle. Aber er reißt sich zusammen, soweit ihm das möglich ist. Es gab niemals auch nur ein böses Wort – vor allem nicht Kevin gegenüber.«
Marie hätte dazu gerne etwas angemerkt, aber sie schwieg. Sie wollte, dass Lore weitererzählte.
»Ich traue Tom nichts Böses zu. Jedem anderen. Aber nicht Tom. Du müsstest erleben, wie er auf Kevin eingeht.« Lore strahlte schon wieder. Wenn sie über Tom sprach, schien sie völlig zu vergessen, dass er mit ihrem Sohn verschwunden war. »Ich meine, dir muss ich nicht erzählen, wie nervig Jungen in dem Alter sein können.«
»Nein, das musst du nicht«, sagte Marie tonlos.
Nun schwieg Lore. Nach einer Weile seufzte sie. Dann fuhr sie fort: »Er fühlt sich sehr zu Kindern hingezogen.« Sie betonte jedes Wort. Wie bei einem Diktat in der Grundschule. »Das ist ja erst einmal nichts Schlechtes. Die meisten Männer betrachten Kinder nur als notwendiges Übel. Aber Tom – der ist vernarrt in Kinder. Er sagt immer: Sie sind die besseren Menschen. Sie sind das Gute in uns. Kinder sind Menschen, wie sie geschaffen wurden. Noch ohne all die späteren Verletzungen. Sie sind offen, neugierig, hilfsbedürftig, gutmütig. Ich habe das früher nie so gesehen. Um ehrlich zu sein: Ich liebe meinen Kevin. Aber andere Kinder haben mich wenig interessiert. Ich glaube, das ist bei den meisten Müttern so.«
Das redest du dir ein, wie so vieles, dachte Marie.
»Tom aber hat alle Kinder in sein Herz geschlossen. Er meinte einmal, er erträgt die meisten Erwachsenen nur, wenn er sich immer wieder sagt: Sie
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