Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
waren auch mal Kinder. Anfangs habe ich das nicht verstanden – aber als ich ihn dann näher kennenlernte …« Lore stockte, sie schien nach Worten zu suchen. »Tom ist ja selbst wie ein Kind … Manchmal, meine ich. Weißt du, ich glaube, er hatte eine furchtbare Kindheit. Er redet nicht darüber. Aber er hält es nicht aus, dass es einem Kind schlecht geht. Er vergöttert Kinder. Er will sie schützen. Vor den Erwachsenen. Er möchte, dass die Kinder so bleiben, wie sie sind. So arglos. So freundlich. Und … liebenswert.«
»Liebenswert?«, fragte Marie bitter. Doch bevor sie fortfahren konnte, sah sie im Rückspiegel ein Polizeifahrzeug, das sich sehr schnell und mit eingeschaltetem Blaulicht näherte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Lore schien es gar nicht zu bemerken, Marie aber konnte ihren Blick nicht vom Rückspiegel lassen. Sie atmete erst auf, als der Streifenwagen an ihnen vorbeiraste, ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln.
»Als Kevin mir deine Mail zeigte, habe ich zuerst kein Wort geglaubt«, fuhr Lore leiser fort.
Marie wollte fragen, warum ihr nicht schon ein Verdacht gekommen war, als sie plötzlich nach München hatten umziehen müssen. Aber Lore kam ihr zuvor: »Als wir zum ersten Mal – quasi über Nacht – das Haus räumen mussten, war ich mir todsicher, dass ihm Unrecht geschah. Ich habe bis dahin nicht eine Sekunde an Tom gezweifelt. So viel habe ich verstanden: Er war da in eine Sache hineingeraten, die gefährlich für uns werden konnte. Es gab Leute, die ihm Böses wollten. Ist das nicht immer so, wenn einer so treuherzig ist wie Tom?«
»Nein, das ist nicht immer so«, widersprach Marie.
Lore überhörte es. »Es gab Zahlungsrückstände. Es gab einen Pfändungsbeschluss. Tom sagte, wenn man selbständig ist und dann auch noch in dieser Branche, dann kann es schon mal zu Hungerstrecken kommen. Aber er sagte auch: Es wird wieder besser. In München habe ich mehr Ansprechpartner. Ich brauche einfach Luft. Wir müssen hier unsere Zelte abbrechen, bevor sie mich einschnüren und ich nur noch für die Gläubiger arbeiten muss. Kennst du das: »Stand by your man?« Ich habe das immer ernst genommen.«
Marie kannte den alten Song. »Stand by your man.« Die apathisch wirkende junge Frau mit der stählernen Hochfrisur, die vor der Bühnenkulisse einer Südstaatenterrasse dieses Lied sang, äußerlich völlig unberührt, aber mit einer unglaublich klaren und geradezu gläsernen Stimme. »Stand by your man.« Das war kein Gesäusel. Das war ein Appell.
Aber galt das auch für die Frau eines Kindermörders?
»Als ich deine Mail las – da blieb mir erst die Luft weg. Doch dann dachte ich: Und wenn was dran ist? Wenn Tom wirklich was mit dem Verschwinden von diesem Johann zu tun hat? Wir kannten uns doch erst ein paar Monate. Wann kennt man einen Menschen so gut, dass man seine Hand für ihn ins Feuer legen könnte? Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich lag wach im Bett und zermarterte mir den Kopf, während Tom neben mir ruhig schlief.«
Lore machte eine Pause. Sie kämpfte mit den Tränen.
»Am nächsten Morgen habe ich mich entschieden, zu Tom zu halten. Er hatte mir bis dahin nicht den geringsten Grund gegeben, an ihm zu zweifeln. Niemals. Er hatte mich und Kevin aufgenommen. Er sorgte für meinen Jungen. Er liebte Kevin sogar, das spürte ich deutlich. Ich meine, er liebte ihn so, wie ein Vater sein Kind liebt. Das gab den Ausschlag. Im Übrigen gab es keinen einzigen Beweis für Toms Schuld. Das waren doch nur haltlose Anschuldigungen. Ehrlich, Marie, würdest du dich von deinem Mann lossagen, wenn Fremde ihn an den Pranger stellen, ohne etwas gegen ihn in der Hand zu haben?«
Marie fragte sich, ob Lore sich nicht entschieden hatte, zu ihm zu halten, weil sie sonst mit ihrem Kind wieder allein dagestanden hätte.
»Ich musste natürlich mit Kevin reden. Der Junge war völlig durcheinander. Er hängt doch auch an Tom. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. Das ist mir auch gelungen. Ich habe Kevin erklärt, dass du sehr verzweifelt bist, weil du dein Kind verloren hast, und dass du deshalb … verrückt geworden bist.« Sie lachte unsicher. »Was hätte ich dem Jungen auch sonst sagen sollen?«
Marie schluckte. »Ja, was hättest du ihm auch sagen sollen?«
Lore schaute nachdenklich aus dem Fenster. »Tom meinte auch, dass du den Verlust deines Kindes nicht verkraftest und deshalb alle Welt verdächtigst. Ich habe ihn gebeten, zur Polizei zu gehen. Aber er erklärte
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