ABGEFAHREN: Auf dem Rad durch Deutschland - mit wenig Geld und viel Gepäck (German Edition)
„Zeit für Nachwuchs“ meines Arbeitgebers. Das bedeutet, ich verkürze meine Arbeitszeit und verzichte auf einen Teil meines Gehalts, das mir ein Jahr lang monatlich prozentual abgezogen wird. Das Geld kommt einem Redakteur zugute, der gerade mit seiner Ausbildung fertig geworden ist. Er wird zumindest für einige Zeit befristet angestellt.
Was mich antreibt? Ich bin nicht auf Sinnsuche oder auf einem Aussteigertrip. Die pure Abenteuerlust, die Sehnsucht, mal längere Zeit völlig ohne Zeitdruck und Verpflichtungen in den Tag hinein zu leben und eine große Neugier auf Land und Leute lassen mich in die Pedale treten. Ich war schon in Mexiko, in Ghana, in vielen europäischen Ländern, aber die südliche Hälfte Deutschlands kenne ich fast nicht. Das soll sich ändern.
Auch die sportliche Herausforderung reizt mich. Noch vor zwei Jahren hätte mich keine Macht der Welt zu dieser Tour überreden können. Da war ich noch Kettenraucherin und der Meinung „Sport ist Mord“. Die erfolgreiche Überwindung der Nikotinsucht ging einher mit beginnendem Spaß an körperlicher Bewegung. Und damit es mich nicht gleich am Anfang aus dem Sattel wirft, trainierte ich vor meiner Radreise im Fitnessstudio. Dahin zieht es mich heute noch regelmäßig.
Zeit zum Aufbruch: ein letzter Schluck Kaffee, eine letzte Umarmung meiner Nachbarin. Sie drückt mir ein kleines schwarzes Täschchen in die Hand mit lauter Kosmetikproben, Aspirin, Pflaster und einem gefalteten Zehn-Euro-Schein. Ich werde alles gut gebrauchen können. Noch könnte ich wieder nach Hause fahren, das ganze Projekt wie eine Seifenblase platzen lassen, immer nur bequem und bedenkenlos darüber reden, dass ich mal eine längere Radtour vorhabe und mir stattdessen neun Wochen Faulenzerei und komfortablen Urlaub gönnen. Von wegen! Für diese Mischung aus Trotz und Stolz werde ich später belohnt. Aus der Zitterpartie, die sich gerade noch vornehmlich in meinem Kopf abspielt, wird nämlich die Tour meines Lebens.
Zunächst führt mich mein Weg zum Mülheimer Hauptbahnhof. Hier komme ich schweißüberströmt und mit hochrotem Kopf nach 30 Minuten an. Sonst brauche ich für die leichte, gerade mal fünf Kilometer lange Strecke, auf der man einen lang gezogenen Berg hinunter braust, 15, höchstens 20 Minuten. Ich schaffe es gerade so, pünktlich zu sein, als auch schon Thomas, ein Freund von mir, im Zug und mit seinem Rad aus Düsseldorf ankommt. Meine erste Etappe führt in die Landeshauptstadt, wo Thomas wohnt. Er begleitet mich und bietet mir eine Übernachtung. Die Reise beginnt also im geschützten Rahmen – und auf dem Ruhrtal-Radweg. Dieser führt durch Nordrhein-Westfalen, ist insgesamt 230 Kilometer lang, beginnt an der Quelle der Ruhr nördlich von Winterberg im Sauerland und endet in Duisburg-Ruhrort, wo der Fluss in den Rhein fließt. Wochen später werde ich diesen wunderschönen Radweg fast in seiner ganzen Länge auf meiner Heimreise genießen. Aber der Gedanke daran ist an diesem Vormittag so weit weg wie der Mond.
Jetzt führt der Weg nach Duisburg. Die Strecke bin ich schon oft gefahren. Diesmal endet sie nicht mit einem Bummel durch den Innenhafen, sondern reicht weiter in die Innenstadt. Wir legen einen ersten Stopp beim Bäcker ein, Thomas spendiert Hefeteilchen mit Mandeln und Kaffee. Ich werde noch oft Menschen treffen, die so großzügig sind. Und ich werde noch oft in Situationen geraten wie diese: Wo geht’s jetzt weiter? Eine Anfrage in der Touristen-Info bringt uns nur kurzzeitig auf den richtigen Rhein-Radweg, doch die etwas ruhigere rechtsrheinische Seite ist schlecht ausgeschildert, zumindest im Juni 2007, da braucht man schon Pfadfinder-Qualitäten. In Duisburg-Hochfeld beispielsweise weist das Schild eindeutig geradeaus, aber nach zehn Metern geht’s auf einer dicht befahrenen Straße nur nach links oder rechts weiter. Wir entscheiden uns richtig, passieren Wanheimerort, Angerhausen, Hüttenheim, vorbei am Stahlwerk von ThyssenKrupp. Diese Gegend wartet mit bester „Schimanski-Kulisse“ auf.
Und dann endlich, nach nicht ganz drei Stunden und 46 Kilometern auf dem Rad, zwischen Bockum und Wittlaer, werden meine Anstrengungen mit dem ersten freien Blick auf den Rhein belohnt. Der Fluss wird mir ein treuer Begleiter sein.
Aber zunächst winkt in Kaiserswerth mein erstes „Füchschen Alt“. Frisch gezapft, eiskalt schmeckt es auf dem urigen Marktplatz. Die nächste Erfrischung wartet am Brunnen der Wassergewinnungsanlage „Am
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