ABGEFAHREN: Auf dem Rad durch Deutschland - mit wenig Geld und viel Gepäck (German Edition)
für den Anteil des Zuckers im Most, der ja später im Gärprozess zu Alkohol umgewandelt wird. Je mehr Oechsle, desto höher der Zuckergehalt.
Nach der Ernte und den ganzen Winter über setzt der Winzer seine ganze Kunst zur Weinbereitung ein. Seinen Beruf bezeichnet er durchaus als Handwerk. „Man stellt jedes Jahr etwas Neues her“, so Peter Göbel. Bei ihm sind es um die 15 Produkte. Das Geheimnis seines Berufes ist nach eigener Aussage „Leidenschaft. Es gibt Fachidioten, die alles nach Vorschrift machen, aber nichts hinkriegen.“ Und er fügt hinzu: „Mich begeistern Quereinsteiger, die über Umwege Winzer wurden oder sich erst nach Jahren in einem anderen Beruf auf ihre Wurzeln besinnen.“
Von Ende November bis Ende Dezember ist die Zeit der Auslieferung. Da setzt sich Peter in seinen voll beladenen Kleinbus und klappert in der ganzen Bundesrepublik die Kundschaft ab. Auf Wunsch gibt’s eine Weinprobe dazu. Diese sollte man unbedingt einmal erlebt haben. Nicht nur, weil Peter leckeren Wein macht. Er bringt einem auch mit schlichten schönen Worten und Geschichten Riesling und Co. nahe. Das klingt und schmeckt alles pur, weil er eben zu dem steht, was er macht. Pathetisch-wichtigtuerische so genannte Weinkenner-Erklärungen hat er nicht nötig. Und es ist völlig in Ordnung, wenn jemand sagt: „Ich habe keine Ahnung von Wein, aber ich will einfach mal probieren.“
Ist ein Jahr gut verlaufen, kann Peter Göbel bis zu 30.000 Flaschen Wein abfüllen. Aber es kann auch anders kommen: 1984 wurde „der fast schlechteste Jahrgang des Jahrhunderts“ geerntet, erinnert sich Peter, der damals im zweiten Lehrjahr war. Der Ertrag betrug nur ein Drittel der sonst üblichen Ernte, das Mostgewicht lag unter 60 Oechsle. Der messbare Zucker war gering, die Säuerung hoch. Doch auch dieser Tatsache konnte der angehende Winzer, der im 84er Jahr den Prozess „von den Trauben bis zum Trinken“ voll begleitete, etwas abgewinnen. „Wir konnten zeigen, dass Qualität nicht nur über den Zuckergehalt zu erreichen ist, sondern auch über den Geschmack, und dass man mit handwerklicher Kunst das Beste erreichen kann.“
Die durch eine geringere Ernte erzeugte Durststrecke ließ sich aber überwinden, weil man ja etwas vom Jahr zuvor im Keller hatte. Grund zum Frohlocken gab’s dagegen in den Jahren 2002 und 2003, da erreichten die Erntemengen Rekordwerte.
Als wir am Samstag mit dem Heften im Weinberg fertig sind, fahren wir bis nach Bernkastel-Kues zu einem Winzer-Kollegen. Peter gibt mir unterwegs eine schöne Moselland-Führung, und ich sehe zum ersten Mal, wie ein Hubschrauber die Berge mit Insektenschutzmittel spritzt. Von unten sieht das aus, als würde der Helikopter jeden Moment am Weinberg zerschellen. Aber er tänzelt wie eine Riesen-Hornisse an den Hängen entlang und verschwindet plötzlich dahinter.
Am Sonntag heißt es wieder einmal Abschied nehmen, mittags geht ein schönes Wochenende an der Mosel zu Ende. Peter fährt mich und mein Rad im Kleinbus zurück nach Koblenz. Hier beginnt einer der schönsten Streckenabschnitte am Mittelrhein, dem UNESCO-Kulturerbe entlang – und am Ende des Tages erwartet mich die schlimmste Nacht auf meiner Tour.
Kapitel 4
Eine Nacht im Regen
Koblenz, Rhens, Boppard, St. Goar, Oberwesel, Bacharach – die Fahrt durch das UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal ist märchenhaft schön. Dazu lacht die Sonne. Dass der Weg meist direkt an der Bundesstraße 9 entlang führt, schmälert das Vergnügen nicht. Der Rhein wird an beiden Ufern von hohen, bizarren Felsen eingerahmt, aus den Bergen lugen verwunschene, romantische Burgen hervor. Hier hätten Szenen für den ersten Teil von „Der Herr der Ringe“ gedreht werden können. Und da ragt er plötzlich vor mir auf: der 193 Meter hohe Loreley-Felsen. Der Fluss ist hier, bei St. Goarshausen, rund 25 Meter tief und nur 113 Meter breit.
Nun ist das Ziel des heutigen Tages nicht mehr weit. Ich will in Bingen übernachten, und zwar erstmals unter freiem Himmel. Der lauschige, warme Sommerabend verleitet mich dazu. Ich radle das gut befahrbare Rheinufer ab und werde schnell fündig: eine von dichtem, hohem Strauchwerk umstellte Baumgruppe bietet mir Unterschlupf. Auf der anderen Rheinseite schaue ich direkt auf den Binger Mäuseturm, der im 14. Jahrhundert als Zollturm erbaut wurde. Nach einem Abendessen am Rheinufer, das aus trockenem Brötchen und Müsliriegel besteht, richte ich mich ein in der grünen Höhle, rolle meine blaue
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