Abgehauen
NEUE DEUTSCHLAND die Stelle, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat. Von dem Verlagsgebäude hat Hermlin nur das Foyer, von den Genossen dort nur den Pförtner kennengelernt. Aber größer wird seine Neugier schon nicht gewesen sein. Hermlin, der nie aufgehört hatte, den Sozialismus in seiner ganzen Vielgestaltigkeit zu studieren, wird seinen Besuch beim NEUEN DEUTSCHLAND denn auch resigniert als zum Scheitern verurteilt angesehen haben. Während etwa derselben Zeit war Stefan Heym unterwegs zur Reuters-Agentur. Er verstand was von psychologischer Kriegführung und war deshalb äußerst verzweifelt, denn nur in äußerster Verzweiflung konnte er dem Klassenfeind erlauben, einen Blick auf das Wort »protestieren« zu werfen. Das ließ sich der Klassenfeind nicht zweimal zeigen, die westdeutschen Zeitungsmacher waren hellwach, alle Unterzeichner wurden über Nacht berühmt, viele fanden ihre verschmähten Namen zum ersten Mal oder endlich wieder mal gedruckt, viele waren unglücklich, durch Urlaub oder Krankheit den großen Augenblick ihrer Friedrich-Wilhelm-Setzung unter die Petition versäumt zu haben, manche schickten aus der – wenn auch nicht allzu weiten – Ferne Depeschen, in denen nichts als ihre Namen zu lesen waren. Sie hofften, in dieser Stunde schon richtig verstanden zu werden. Es gab Tränen und Vorwürfe von Leuten, die sich auf der Liste nicht fanden. Wie es zu der ungewöhnlichen Initiative von Lamberz gekommen ist, einem Künstlerkollektiv auf privaten Plüschsesseln den folgenden Vortrag zu halten, weiß man nicht. Vielleicht war er es, der gegen die Bedenken seiner Politbürokollegen den Biermannrausschmiß ausgeheckt und durchgeführt hat. »Nun sieh zu, wie du das wieder in die Reihe bringst«, könnten sie gesagt und ihm Beine gemacht haben. Oder umgekehrt, die Kollegen waren es, die gegen seine Bedenken den Biermannrausschmiß ausgeheckt und durchgeführt haben. »Oh, das haben wir nicht vorausgesehen, Genosse Lamberz«, könnten sie in dem Fall gesagt haben, »geh zu diesen Schlangen, die wir an unsern Busen genährt haben, auf dich hören sie vielleicht noch.« Hastig ließ er mit Hilfe des Schauspielers Hilmar Thate einen gemischten Künstlertrupp zusammentelefonieren, man beschloß, sich in meiner Wohnung zu treffen, wahrscheinlich hatte ich den längsten Tisch und die meisten Stühle. Was niemand wußte: Ich besaß auch eines der damals modernsten Tonbandgeräte aus dem Westen. Das hatte einen Knopf, mit dem man eine Bandgeschwindigkeit von 2½cm pro Sekunde einstellen konnte.
Der Chef der Abteilung Agitation und Propaganda, Werner Lamberz, schien seine Mitstreiter so ausgewählt zu haben, daß die Gefahr, an Brillanz übertroffen zu werden, von vornherein gebannt war. Der eine, Heinz Adameck, war Intendant des Fernsehens der DDR und damit quasi Regierungsmitglied, denn das Fernsehen gehörte der Regierung, den anderen brachte Lamberz aus seinem Büro mit, er hieß Karl Sensberg, und man kann von ihm sagen, daß er nicht zu der Brigade gehörte, welche die tiefen Teller erfunden hat.
Natürlich war es für alle eine Ehre, teils ein- teils vorgeladen worden zu sein. Ich gehörte ausnahmsweise dazu, weil man mich als Gastgeber schlecht aussperren konnte. Mir war Lamberz vor Jahren in einer Dresdener Hotelhalle begegnet, wo er mit offenen Armen auf mich zukam und mir nach wenigen Minuten das »Du« anbot. Wer mich kennt und meinem proletarischen Charme je ausgesetzt war, weiß, daß das möglich ist. Adameck war selbstverständlich der Duzfreund aller brauchbaren Schauspieler, auch der parteilosen, anders wäre die Fülle seiner Macht für einen abhängigen Freischaffenden nicht zu ertragen gewesen.
Mein ehrbares Haus dürfte an diesem Nachmittag des 20. November 1976 die bestbewachte Immobilie Ostberlins gewesen sein. Für vier Stunden lebten wir inmitten eines Fuhrparks von dunklen Limousinen. Nachdem alle sich versammelt hatten, räusperte und äußerte sich der Schauspieler Thate, der, zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Angelica Domröse, nicht zitiert sein möchte, weshalb ich die Beiträge dieser beiden zum Teil streiche und diejenigen indirekt vortrage, die zum Verständnis nötig sind. Den richtigen Namen des dritten Mannes in der Regierungsdelegation habe ich geändert, weil ich den Mann nicht finden konnte. Alle anderen Teilnehmer des folgenden Gesprächs haben zum Abdruck ihre Zustimmung gegeben.
Hilmar Thate trägt vor,
er sei, zusammen mit seiner Frau,
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