Abgehauen
Tätigkeiten des DDR-Menschen. Die Grundlage dazu war der Klassenstandpunkt. Je wuchtiger der Klassenstandpunkt bei einem Bürger ausgeprägt war, desto nutzloser war sein Wirken in der Gesellschaft. Der Kumpel Adolf Hennecke und der Radfahrer Täve Schur mögen, solange ihre Kräfte nicht erschöpft waren, Ausnahmen gewesen sein, und zwar »eingedenk« ihrer naturgegebenen Anständigkeit, die ihnen dann prompt nur mindere Regierungsaufgaben eingebracht hat. Nein, mit jedem Wort Biermanns konnten sich die dreizehn Künstler nicht identifizieren, ich glaube beinah, daß sie nicht einmal die Hälfte der Biermannworte für identifizierungswürdig angesehen hätten. Am besten wären dafür noch die alten Gedichte geeignet gewesen, wo die Mädchen stets weiße Knie haben mußten. Nicht anders konnte es mit seinen Handlungen sein, die darin bestanden, daß er sich mit Pfaffen zusammentat, um sich ihre Kirchen zu borgen und sie mit unfrommem Gesindel zu füllen. Hat die Dreizehnerbande die Vorgänge um Biermann nicht selbst gegen die DDR mißbraucht? Die wollten die Petition glatt im Zentralorgan der SED NEUES DEUTSCHLAND veröffentlichen, da lachten ja alle DDR-Hühner. Der Text war ein gefundenes Fressen für die Westagenturen, und, schlau wie die Dichter waren, haben sie sich schon bei seiner Formulierung davon distanziert. Das zeigt die hohe Distanzierungskunst, die in der DDR erblüht war.
»Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt …« Des Dichters Taten sind seine Worte: »Sozialismus, schön und gut, doch was man uns hier aufsetzt, das ist der falsche Hut.« Wie kann ein nachdenklicher Mensch für einen Staat eintreten, und schon überhaupt für einen der beiden deutschen? Wer für einen Staat eintritt, wird enttäuscht, sofern er das für seine Reifung nötige Alter erreicht. Biermann hat es erreicht, schon nach rund dreißig Jahren war er von dem Arbeiter-und-Bauern-Staat, für den er als junger Mann eingetreten war, tief enttäuscht. Deutsche Staaten mögen übrigens Landsleute nicht, die von ihnen enttäuscht sind. Ein deutscher Staat kann sich das nicht vorstellen. Er kann sich Millionen Menschen vorstellen, die für ihn eintreten, ihn toll finden, ihm zujubeln, aber jeder ist ihm unheimlich, der von ihm enttäuscht ist. Staaten können derart eifersüchtig sein, daß sie Enttäuschte verstoßen oder beschießen. Wer es unangebracht findet, ein intimes Verhältnis mit einem Staat anzufangen, der sollte schon gar nicht auf sozialistischem Gebiet siedeln.
»Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken. 17. November 1976.« Für den Laien oder den Westdeutschen, der Unterwürfigkeiten dieser Art höchstens aus seinen Briefen ans Finanzamt kennt, scheint der Text an dieser Stelle bloß Männchen zu machen, wenn da nicht das Wort »protestieren« Verwendung gefunden hätte. Es gilt als sicher, daß diese erste Person Plural von »protestieren« in einem Brief an die Regierung der DDR während ihres siebenundzwanzigjährigen Bestehens noch nie geschrieben worden ist. Zwar ist das ungeheuerliche Wort die Folge des bis dahin schwersten Regierungsfehlers gewesen, das wissen wir nun, dennoch bleibt es eine große Tat. Wie eine Bowlingkugel raste dieses Wort unter die Politbürokegel. Alle neune. Der Kulturdompteur im Politbüro hieß Werner Lamberz, er galt als intelligent, feinfühlig, man hielt ihn für den Kronprinzen von Honecker und hoffte, daß er diesen bald ablösen würde. Lamberz war eins neunzig groß, trug eine goldgerandete Brille, hatte die Zähne in Ordnung, war brav gescheitelt, aber das Exotische an ihm war, daß er aus seiner Vaterstadt Mayen einen rheinischen Akzent behalten hat, wodurch der Klang seiner Worte angenehmer war als ihre Bedeutung.
Er war bereit, sich mit den Benutzern des Wortes »protestieren« zu treffen, wo immer sie wollten, nur nicht in seinem Politbüro, das war ihm für die Bande (Westsynonym: Pinscher) denn doch zu schade. Inzwischen hatten über hundert Vario-Künstler der DDR die Petition unterschrieben, darunter auch solche, die schon an einen neuen Wind glaubten, in den sie ihre Jacken hängen könnten. Dem Stephan Hermlin, der, chauffiert von dem später als Journalist bekannt gewordenen Rolf Schneider, mit dem Text tatsächlich zum NEUEN DEUTSCHLAND fuhr und um Veröffentlichung nachsuchte, zeigte das
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