Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
im Landhaus der Großeltern, zwei Töchter, eine schöner als die andere , Karriere, Enkel. Langweilige Geschichten, Geschichten wie die von tausend anderen Menschen, Geschichten, die es als einzige wert erscheinen, weitererzählt zu werden. Die langsame, belegte Stimme des Ingenieurs verleiht ihnen ein altmodisches Pathos. Ich höre ihm zu, wie ich meinem Großvater zugehört habe, wenn er das Märchen von der Zauberbohne erzählt hat – jenes, in welchem ein Riese ruhig in seinem Wolkenheim haust und dann von einem Kind erst bestohlen und schließlich umgebracht wird, wobei das Kind nichtsdestotrotz bis ans Ende seiner Tage weiterlebt, glücklich und zufrieden –, und wie damals versuche ich, nicht daran zu denken, was sich im Schrank, unterm Bett oder hinter den Vorhängen verstecken könnte.
»So, Herr Ingenieur«, sage ich irgendwann und reiche ihm den Arm. »Es ist schon spät. Wir gehen besser heim.«
»Einverstanden.«
Wir schlagen die Richtung zum Dionysus’ Ivy Hotel ein.
Aus den Nachtlokalen treten behäbige Männer mit erheblich jüngeren Frauen und winken unauffällig nach einer der Taxen, die dort warten. Einer von ihnen steht abseits und brüllt auf Italienisch in sein Handy: »Nein, Giorgia, was du da über die Nutten sagst, ist nur ein Vorwand. Nur ein Vorwand. Man verlässt sich nicht wegen ein paar Nutten.«
»Herr Anwalt«, sagt der Ingenieur und legt die Hände zusammen. »Ich möchte Ihnen danken. Unter uns gesagt, wie soll ich es ausdrücken … Ich hatte mich nicht gerade richtig verlaufen, höchstens ein bisschen verirrt, das schon. Es ist nur so, dass ich dieses Gebäude, das so aussieht wie ein – verlangen Sie bitte nicht, dass ich es ausspreche –, als Orientierung nutzen wollte, dieses Gebäude vor dem Hotel, aber dann habe ich mich umgedreht und es nicht mehr gesehen.«
»Sie fühlen sich hier auch fehl am Platze, nicht wahr?«
»Was heißt hier, fehl am Platze. Wir aus Venetien haben keine Angst vor Abenteuern.«
»Kommen Sie schon, Herr Ingenieur.«
»Na ja. Ein wenig fehl am Platze fühle ich mich schon. Aber das wird an diesem Wein liegen, der ist ein wenig … unharmonisch.«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen, Herr Ingenieur.« Ich schaue zur Skyline hoch. »Das Gebäude, von dem Sie gesprochen haben, ist übrigens dort. Ehrlich gesagt, mich hat es gefreut, dass ich Sie getroffen habe. Ich hatte es – wie soll ich sagen – nötig. Das war kein leichter Abend heute.«
»Sie sind ein netter Junge, Herr Anwalt, lassen Sie sich das gesagt sein.«
»Nun …« Ich zucke mit den Achseln. »Danke.«
»Sind Sie sicher, dass Sie aus Mailand kommen?«
Im dunklen Zimmer beuge ich mich über den Trolley und suche die Aspirin. Mein Kopf fühlt sich an, als würde eine Murmel darin herumrollen und auf der Suche nach einem Ausgang ständig gegen den Schädel prallen. Die Geräusche sind gedämpft, zufallende Türen, klingelnde Telefone, Gelächter. Ich schlucke eine Tablette und spüle sie mit Rum aus der Minibar hinunter. Ohne mich auszuziehen, werfe ich mich aufs Bett, starre auf die Öffnungen der Rauchmelder und denke an den Ingenieur, der sich in den Straßen von Dubai verirrt hat und nach einem riesigen Stahl-Kristall-Pimmel Ausschau hält. Ich lache. Ich lache laut. Bis ich weinen muss.
43
In der vierten Klasse hat mich die Lehrerin mal gebeten, den Raum zu verlassen und auf dem Flur Platz zu nehmen. Geschichtsstunde – die fünf Tage von Mailand . Ich hatte mich nicht beherrschen können und meinem Banknachbarn Alessandro Merloni, dem mit dem platten Gesicht und den Augen eines traurigen Uhus, zugeflüstert: » Fünf Tage . Wir Mailänder möchten auch im Krieg nicht aufs Wochenende verzichten.« Dann bin ich in Gelächter ausgebrochen, alleine. Die Lehrerin hielt mitten im Satz inne und sah mich an.
»Campi, lass uns teilhaben, damit wir auch lachen können.«
Ich wurde rot und verfiel in verlegenes Schweigen. Auf Drängen der Lehrerin erzählte dann Alessandro meinen Witz.
»Ich habe ihn gar nicht verstanden«, fügte er hinzu.
»Da gibt es auch nichts zu verstehen«, sagte die Lehrerin und deutete mit dem Kinn auf die Tür.
Mit verletztem Stolz, auch weil man meine Witzchen nicht zu würdigen wusste, erhob ich mich und verließ unter den verblüfften Blicken meiner Klassenkameraden den Raum. Ein Kind, das sich Respekt zu verschaffen verstand, eines wie Ivan Cacciapuoti, der in der dritten Klasse drei Mal sitzen geblieben und mit einer natürlichen Neigung
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