Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
Kanzlei: Fotokopien, Vorbereitung von Akten, Erstellung von Vollstreckungsbescheiden und tausend andere Kleinigkeiten, für die ich weniger ein Examen als Alkohol gebraucht hätte. Und ich hatte es noch gut getroffen. Die Berichte meiner ehemaligen Kommilitonen waren deprimierend: Der eine kaufte für seinen dominus ein, der andere wusch sein Auto, wieder ein anderer brachte seine Kinder zur Schule.
Komm schon, wir wollen mal nicht übertreiben. Um mich herum hatten alle nur die Augen verdreht. Es gibt Leute, die müssen im Bergbau arbeiten , sagte meine Mutter immer. Jedes Mal, wenn ich mich vollkommen entnervt bei ihr ausheulen wollte, neigte sie den Kopf, hob einen Finger und sprach nur ein einziges Wort: Sulcis . Die Bergbauregion auf Sardinien.
Eines Tages überließ ich im Bus einer älteren Dame, die sich den Arm gebrochen hatte, meinen Platz, und wir kamen ins Gespräch. Die Frau interessierte sich für meinen Beruf, und ich beschrieb ihr die Bedingungen, unter denen ich arbeitete. An der Haltestelle vor der Poliklinik ging sie zur Tür, sah sich wie jemand, den ein Niesreiz plagt, noch einmal um und sagte: »Ihr jungen Leute seid richtige Weicheiers.«
»Weicheier, wenn schon«, entgegnete ich.
»Richtige Weicheiers«, rief sie.
Mir war das nicht genug.
Ich machte mich auf die Suche nach einer Kanzlei, die mir den großen Sprung ermöglichen würde, und absolvierte Vorstellungsgespräch um Vorstellungsgespräch.
Als ich zum ersten Mal den Fuß in die Kanzlei Flacker, Grunthurst and Kropper setzte, befiel mich ein hartnäckiges Unbehagen. Die Glastüren, die sich zehn Sekunden vor meinem Hindurchtreten öffneten. Die Unpersönlichkeit der Einrichtung. Die Kälte der Empfangsdame, die mich mit den Worten begrüßte: »Gehen Sie dorthin«, ohne auch nur aufzuschauen oder mich einer Geste zu würdigen, weswegen dorthin auch das Klo hätte sein können. Die kleinen Kameras in den Ecken. Die Zeitschriften wie Capital , Millionaire , Finanza e Mercati , die auf dem Tisch vor den Sesseln aufgefächert lagen. Das nervöse Raunen, das die Räume erfüllte. Die Aura von Bedeutung, die sich auf jeden Quadratzentimeter legte und – prêt-à-porter – Botschaften vermittelte wie: Wir sind mit der Professionalität auf Du und Du.
Aber ich wollte den großen Sprung machen.
(Herr Anwalt)
Mir reichte das nicht.
(Signor Campi)
Es reichte mir nicht.
»Herr Anwalt Campi. Nun warten Sie doch, verdammt.«
»Herr Ingenieur«, rufe ich überrascht und drehe mich um. »Aber was machen Sie denn hier in der Stadt? Um diese Uhrzeit, ganz außer Atem, nass geschwitzt.«
»Ich …« Der Ingenieur sah sich verwirrt um. »Das weiß ich auch nicht. Ich bin nach dem Abendessen hinausgegangen und wollte ein paar Fotos machen. Meine ältere Tochter hat mir nämlich diesen Apparat hier geschenkt, schauen Sie, ist das nicht ein tolles Ding? Ich habe mich also in die Straßen gestürzt und …«
»Und jetzt finden Sie den Weg zum Hotel nicht mehr«, beende ich den Satz und zwinge mich zu einem Lächeln.
Der Ingenieur breitet verlegen die Arme aus.
»Diese Gebäude ähneln sich alle so.«
Einen Moment lang schaut er auf seine Schuhe hinab. Dann blickt er plötzlich wieder auf, wild entschlossen.
»Aber nicht doch, davon kann gar keine Rede sein«, sagt er und schlägt sich mit der Faust an die Brust. »Glauben Sie wirklich, dass wir aus Venetien mit solchen Orten Probleme haben? So etwas habe ich oft genug in meinem Leben gesehen. Wissen Sie, wie alt ich bin? Neunundsechzig, und schauen Sie, was ich noch für Muskeln habe. Wieso sollte ich mit dieser Stadt überfordert sein, hier ist doch alles Schall und Rauch. Neapel. Das war wirklich ein exotischer Ort, als ich mit meiner Luisa auf Hochzeitsreise dort war. Wir sprechen hier von den Sechzigern.«
»Okay, okay«, sage ich und hebe die Hände. »Ich wollte Ihnen nichts unterstellen. Falls Sie aber Lust haben, mich zu begleiten…«
»Ja gerne. Ich folge Ihnen.«
Trotz seiner exzentrischen Macken kann der Ingenieur ein unterhaltsamer Begleiter sein. Worte und Geschichten sprudeln nur so aus ihm hervor. Er erzählt mir von seiner Kindheit, als er über die Wiesen gelaufen ist, und von den Schwierigkeiten der Nachkriegszeit. Seine Frau hat er in der Schule kennen gelernt, als man die Mädchen noch mit Steinen beworfen hat. Militär, dann Uni, gegen den Willen des Vaters, der es lieber gesehen hätte, wenn er der Familientradition gefolgt und Wagenbauer geworden wäre. Hochzeit
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