Abgründe
fallen, verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
»Steh auf, du Blödmann!«, schnauzte Sigurður Óli und versuchte, den Mann hochzuziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich um den Tagedieb handelte, der zwei Stockwerke über der Freundin seiner Mutter wohnte, den Kerl, der sich als Komponist ausgab.
»Tu mir nichts«, rief der Komponist.
»Ich tu dir doch gar nichts! Aber wie wär’s, wenn du damit aufhören würdest, Guðmunda aus dem ersten Stock ihre Zeitung zu klauen? Weißt du überhaupt, wer sie ist? Nur ein Vollidiot stiehlt alten Damen die Sonntagszeitung! Macht es dir Spaß, Leute zu ärgern, die sich nicht wehren können?«
Der junge Mann war aufgestanden und sah Sigurður Óli wütend an. Dann riss er ihm die Zeitung aus der Hand.
»Das ist meine Zeitung«, sagte er. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Deine Zeitung?«, rief Sigurður Óli. »Oh nein, Freundchen, die gehört Guðmunda.«
Doch dann blickte er nach unten in den Eingangsbereich zu den Briefkästen, fünf nebeneinander und drei übereinander, und sah, dass die Zeitung immer noch so aus Guðmundas Briefkasten herausguckte, wie er sie selber hineingesteckt hatte.
»Scheiße«, schnaubte er, setzte sich wieder ins Auto und fuhr frustriert davon.
Drei
Am Montagmorgen wurde Sigurður Óli bereits auf dem Weg zur Arbeit benachrichtigt, dass man in einer Mietwohnung im Þingholt-Viertel die Leiche eines jungen Mannes gefunden hatte. Ihm war die Kehle durchgeschnitten worden. Sigurður Ólis Tag ging damit drauf, die Nachbarn des Toten zu vernehmen. Elínborg war bereits vor ihm am Tatort eingetroffen, sie leitete die Ermittlung so besonnen und ausgeglichen wie immer, für Sigurður Ólis Geschmack viel zu besonnen und ausgeglichen.
Gegen Mittag erhielt er einen Anruf von Patrekur, mit dem er sich auf dem Klassentreffen für Montag verabredet hatte. Patrekur hatte in den Nachrichten von dem Mord erfahren und sagte Sigurður Óli, dass er sich wegen des Treffens keine Gedanken zu machen bräuchte. Sigurður Óli sagte ihm, dass er am späteren Nachmittag loskommen könnte und schlug ein Café vor. Ein zweiter Anruf kam vom Dezernat. Ein Mann hatte dort nach Erlendur gefragt und weigerte sich jetzt, das Gebäude zu verlassen, bevor er nicht mit ihm gesprochen hätte. Man hatte dem Mann gesagt, dass Erlendur im Urlaub und nicht in der Stadt sei. Daraufhin hatte der Mann verlangt, mit Sigurður Óli zu sprechen. Seinen Namen hatte er nicht nennen wollen, und auchnicht sein Anliegen, und schließlich war er dann doch wieder gegangen. Nach diesem Gespräch rief Sigurður Óli Bergþóra an, um sich für den morgigen Abend mit ihr zu verabreden.
Sigurður Óli verbrachte den ganzen Tag am Tatort und konnte erst um fünf zu dem verabredeten Treffen mit Patrekur aufbrechen. Der wartete bereits im Café auf ihn. Er war jedoch nicht allein, sondern zusammen mit Hermann gekommen, den Sigurður Óli von Partys bei seinem Freund kannte. Er arbeitete bei einer Importwarenhandlung und war mit der Schwester von Patrekurs Frau Súsanna verheiratet. Vor Hermann standen ein halbvolles Bier-und ein leeres Schnapsglas.
»Ist das nicht ein bisschen übertrieben an einem Montagnachmittag?«, fragte Sigurður Óli mit einem Seitenblick auf die Gläser, als er sich zu ihnen setzte.
Hermann grinste verlegen und sah Patrekur an. »Ich habe es dringend nötig«, sagte er und trank einen Schluck Bier.
»Was ist los, stimmt etwas nicht?«, fragte Sigurður Óli.
Irgendwie war Patrekur nicht wie sonst, und Sigurður Óli nahm an, dass es ihm unangenehm war, ihn zu diesem Treffen überredet zu haben, ohne ihm zu sagen, worum es ging. Normalerweise war Patrekur immer sehr ausgeglichen, lachte viel und war stets zu Späßen aufgelegt. Sie trafen sich manchmal morgens früh im Fitness-Studio und redeten bei einer Tasse Kaffee ein paar Minuten miteinander, sie unternahmen gemeinsame Ausflüge und gingen manchmal zusammen ins Kino. Patrekur war vielleicht der einzige vertraute Freund, den Sigurður Óli hatte.
»Du hast sicher schon mal von einer Schnitzelparty gehört?«
»Nein. Wird da gegrillt?«
Patrekur lächelte. »Schön wär’s«, sagte er und sah Hermann an, der wieder das Glas zum Munde führte. Sein Händedruck war kraftlos und feucht gewesen, als Sigurður Óli ihm zur Begrüßung die Hand gereicht hatte. Er trug zwar Anzug und Krawatte, hatte sich aber einige Tage nicht rasiert. Dünnes Haar rahmte die regelmäßigen, aber wenig
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