Abgründe
ausdrucksvollen Gesichtszüge ein.
»Also geht es nicht um Schnitzel, die man auf den Grill wirft?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein. Bei diesen Partys geht es nicht um solche Schnitzel«, erklärte Patrekur dumpf.
Hermann leerte sein Glas und bestellte das nächste.
Sigurður Óli sah Patrekur lange an. In ihren Jahren auf dem Gymnasium hatten sie den neoliberalen Verein »Milton« gegründet und ein Blatt mit dem gleichen Namen herausgegeben, in dem der Lobgesang des freien Marktes und der Privatinitiative gesungen wurde. Sie hatten aufstrebende Nachwuchspolitiker aus den Reihen der Konservativen zu Informationsveranstaltungen in der Schule eingeladen, die aber meist sehr schlecht besucht waren. Später war Patrekur zu Sigurður Ólis großer Verwunderung mit fliegenden Fahnen zu den Linken übergewechselt. Er hielt flammende Reden gegen den amerikanischen Stützpunkt in Keflavík und für den Austritt aus der Nato. Zu dem Zeitpunkt kannte er seine spätere Frau bereits, die ihn wahrscheinlich beeinflusst hatte. Sigurður Óli hatte mit allen Mitteln versucht, die Zeitung Milton am Leben zu erhalten, aber die ursprünglichen acht Seiten schrumpften auf vierzusammen, und als die neoliberalen Nachwuchskonservativen sich nicht mehr auf den Veranstaltungen blicken ließen, gingen Verein und Mitteilungsblatt den Bach hinunter. Sigurður Óli besaß aber immer noch sämtliche Exemplare, darunter auch eines, das einen Essay von ihm enthielt – »Amerika bringt Rettung: Die Lügen über die cia in Südamerika« .
Patrekur und er immatrikulierten sich an der Universität. Als Sigurður Óli das Jurastudium abbrach und nach Amerika ging, um Kriminalwissenschaften zu studieren, schrieben sie sich regelmäßig. Patrekur kam einmal mit seiner Frau und dem ersten Kind zu Besuch und bombardierte ihn mit seinem Wissen über Laufgewichtswaagen und Maßstäbe.
»Wieso reden wir hier eigentlich über Schnitzel?«, fragte Sigurður Óli, der keine Ahnung hatte, was mit seinem Freund los war. Er wischte sich ein Stäubchen von seinem neuen hellen Sommermantel, den er immer noch trug, obwohl es bereits Herbst war. Er hatte ihn im Ausverkauf erstanden und fand, dass er ihm sehr gut stand.
»Es ist nicht ganz einfach für mich, mit dir darüber zu reden. Ich habe dich noch nie in deiner Eigenschaft als Kriminalbeamter um einen Gefallen gebeten«, sagte Patrekur verlegen grinsend. »Hermann und seine Frau stecken in einem miesen Schlamassel, und zwar wegen Leuten, die sie gar nicht richtig kennen.«
»In was für einem Schlamassel?«
»Es geht um die Leute, die sie zu dieser Party eingeladen haben.«
»Fang nicht schon wieder mit Schnitzeln an!«
»Lass mich das erklären«, sagte Hermann. »Wir haben das früher gemacht, aber jetzt nicht mehr. Schnitzelparty ist ein anderes Wort für …« Hermann räusperte sich verlegen. »… ein anderes Wort für eine Swinger-Party.«
»Swinger-Party? Also Partnertausch?«
Patrekur nickte. Sigurður Óli starrte seinen Freund an.
»Du und Súsanna auch?«, fragte er.
Patrekur zögerte, als würde er die Frage nicht verstehen.
»Du und Súsanna?«, wiederholte Sigurður Óli völlig perplex.
»Nein, nein, wir nicht«, sagte Patrekur. »Wir haben nichts damit zu tun. Es geht um Hermann und seine Frau, Súsannas Schwester.«
»Es sollte einfach eine harmlose Abwechslung im Ehealltag sein«, erklärte Hermann.
»Eine harmlose Abwechslung?«
»Musst du eigentlich alles wiederholen, was wir sagen?«, fragte Hermann.
»Praktiziert ihr das schon lange?«
»Praktizieren? Ich weiß nicht, ob das der richtige Ausdruck ist.«
»Und ich schon gar nicht«, sagte Sigurður Óli.
»Wir haben es vor ein paar Jahren gemacht, aber jetzt nicht mehr.«
Sigurður Óli sah erst seinen Freund und dann Hermann an.
»Ich brauche mich dafür nicht zu rechtfertigen«, sagte Hermann. Sigurður Óli ging ihm ganz offensichtlich auf die Nerven. Als ihm das Bier gebracht wurde, nahm er einen ordentlichen Schluck.
»Das war wohl keine gute Idee«, sagte er zu Patrekur.
Patrekur antwortete nicht darauf, sondern sah Sigurður Óli ernst an.
»Du hast da nicht mitgemacht?«, fragte Sigurður Óli.
»Natürlich nicht«, antwortete Patrekur. »Ich möchte ihnen nur helfen.«
»Und was geht mich das an?«
»Sie haben Probleme bekommen«, sagte Patrekur.
»Was für Probleme?«
»Es dreht sich darum, dass man sich mit Leuten amüsiert, die man überhaupt nicht kennt«, sagte Hermann, den das Bier
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