Abgrund der Lust
besaß.
Neugier flackerte in den braunen Augen der älteren Frau auf. »Sie sind wütend.«
Victoria stritt es nicht ab. »Ich mag keinen Klatsch, Madame.« Lügen hatten Victoria um ihre Stellung gebracht. Und nun würden sie sie wohl ihr Leben kosten.
»Klatsch kann niemandem wehtun, der keinen Namen hat, Mademoiselle,« tat Madame René ihre Bemerkung ab.
An solchen Snobismus hatte Victoria sich schon lange gewöhnt.
»Aber Monsieur Gabriel hat einen Namen«, sagte sie mit Nachdruck.
Die Schneiderin erinnerte Victoria mit ihrem schief gelegten Kopf plötzlich an einen neugierigen Vogel … einen Raubvogel.
»Und Sie glauben, dieser Klatsch würde ihm wehtun?«, fragte Madame René neugierig.
»Ich denke doch, dass es jeden Mann ärgern würde, wenn über sein Privatleben geredet wird, Madame.« Victorias Ton zeigte deutlich, dass sie keine weiteren Gespräche wünschte.
» Mais Monsieur Gabriel ist nicht irgendein Mann, est-il? «
»Nein, das ist er nicht«, bestätigte Victoria so kühl, wie ihre Haut sich anfühlte. »Wenn er das wäre, würde er nicht mehr leben.«
Madame René machte ihren Kopf gerade; die Pfauenfeder schwankte.
»Nein, das stimmt«, bestätigte die Schneiderin lebhaft.
Victoria zwinkerte verwundert. Für einen flüchtigen Moment leuchtete Anerkennung aus den braunen Augen der Älteren, wich aber sofort einer wissenden Herablassung.
»Sie haben Glück, Mademoiselle. Monsieur Gabriel ist très riche . Nicht jeder kann sich meine Kleider leisten.« Kleider … Gabriel hatte eine Näherin bestellt, die ihr Kleider nähen sollte.
Victoria stellte sich eine feminine, frivole Kreation aus Seide und Satin vor. Das überwältigende Verlangen nach einem neuen Kleid kam einem körperlichen Schmerz gleich. Sofort überlagerte das auf dem Boden zerknüllte Wollkleid diese Vorstellung. Sie wollte keine Almosen.
»Ich brauche kein weiteres Kleid, vielen Dank, Madame René«, erklärte Victoria kühl. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden …«
Die braunen Augen funkelten verschlagen. »Wenn Sie mich fortschicken, werden Sie den Spekulationen über Monsieur Gabriels Fähigkeiten nur neue Nahrung geben, Mademoiselle.«
Victoria verhärtete sich gegen die Beeinflussung der Schneiderin. Erpressung war der Preis der Sünde, hatte Gabriel gesagt.
»Wollen Sie mich erpressen, Madame René?«
»Sie sind noch Jungfrau, Mademoiselle«, erklärte die Schneiderin. Der Muskel in Victorias Schoß krampfte sich zusammen.
»Sie irren sich, Madame.«
»Mademoiselle, hätte Monsieur Gabriel Sie genommen, würden Ihre Augen vor Zufriedenheit strahlen und Ihr Mund, Ihre Brüste und Ihre Geschlechtslippen wären geschwollen. Ich versichere Ihnen, er hat Sie nicht angerührt.«
Geschlechtslippen dröhnte es in Victorias Ohren. Instinktiv presste Victoria die Beine zusammen; ihre Arme klemmten ihre Rippen ein.
»Und diese Beobachtungen werden Sie natürlich weitergeben«, sagte sie schneidend.
»Er war un prostitué , Mademoiselle.« Für Männer, nicht für Frauen, brauchte sie nicht hinzuzufügen.
»Ich weiß durchaus, was Monsieur Gabriel war«, erwiderte Victoria frostig.
»Aber wissen Sie auch, was er jetzt ist?«, fragte die Schneiderin.
Wie lange musste sie noch vor dieser Frau im harten elektrischen Licht stehen, das jeden Makel offenbarte?
»Er ist der Eigentümer dieses Hauses«, sagte sie steif.
»Er ist der unberührbare Engel, Mademoiselle«, berichtigte Madame René sie. »Und er gibt Leuten wie uns Arbeit. Wir sind nicht alle erfolgreich.«
Instinktiv starrte Victoria auf die Perlenkette am Hals der Schneiderin.
»Aber Sie waren erfolgreich«, sagte sie ungestüm.
» Oui , ich war très erfolgreich. Die meisten Prostituierten sterben an Krankheit und Armut, Mademoiselle. Sie haben Armut erlebt; das sehe ich an Ihren Augen. Nur sehr wenige Männer – oder Frauen – zahlen so viel Geld, wie Sie gestern Abend bekommen haben.«
Aber Gabriel hatte die zweitausend Pfund nicht geboten, um sie zu besitzen.
Die Kälte, die Victoria plötzlich erfasste, hatte nichts mit dem Zimmer oder dem nassen Haar zu tun, das an ihrem Rücken klebte.
Hatte der Mann, der zuerst einhundertfünf und später tausend Pfund geboten hatte, nach ihrer Jungfräulichkeit getrachtet … oder hatte er ihr nach dem Leben getrachtet?
»Haben auch Frauen Monsieur Gabriels … Dienste gekauft?«, fragte Victoria wie unter Zwang.
Die Frage rutschte ihr heraus.
» Oui .« Madame Renés Augen
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