Abgrund der Lust
Haar.
Die Kupferpaneele waren voller Wassertropfen wie regennasse Fensterscheiben. Silbrig lief das Wasser in gewundenen Rinnsalen langsam am kupfernen Körper der Frau herunter. Ihre Züge waren verschwommen, unwirklich, schamlos sinnlich.
Die Frau vor der Verdammung des Menschen.
Der Anblick dieser Frau mit der kupferfarbenen Haut vermittelte ein eigentümliches Machtgefühl. Die Illusion der Macht verflüchtigte sich auch nicht, als Victoria aus der Kupfergrotte trat.
Das blaue Handtuch auf dem hölzernen Halter neben der Wanne war weich, dick und luxuriös. Victoria benutzte Gabriels Handtuch. Ein silberblondes Haar hatte sich in den Zähnen eines Elfenbeinkamms verfangen. Ein scharfer Stich zuckte durch ihre Brust.
Sie wollen mich nicht , hatte sie Gabriel vorgeworfen.
Sie wären überrascht, was ich will , Mademoiselle, hatte er geantwortet.
Victoria benutzte Gabriels Kamm. Wasserschwarze Haare gesellten sich zu dem einzelnen silberblonden Haar. Glühende Tränen brannten in ihren Augen.
Entschlossen klammerte Victoria sich an die Illusion der Macht und öffnete die oberste Schublade unter dem Marmorwaschbecken. Sie starrte auf eine Zahnbürste mit Elfenbeingriff. Gabriels Zahnbürste. Ihre eigene Zahnbürste mit Holzgriff war in ihrer Tasche, zusammen mit den Briefen und ihrem kleinen Kamm mit den Zahnlücken.
Auf dem Tablett mit dem Abendessen hatten zwei Schalen au chocolat gestanden. War er zurückgekommen, nachdem Victoria zu Bett gegangen war? Hatte er die Schokolade gegessen?
Was hatte der Mann Gabriel angetan, dass er keine Frau mehr anrühren wollte?
Victoria kramte in der Schublade und fand eine weitere Zahnbürste: Sie sah genauso aus wie Gabriels. Wirkte aber unbenutzt. Sie benutzte sie. Und dann benutzte sie Gabriels Zahnbecher, der neben dem Waschbecken stand, um sich den Mund auszuspülen.
Victoria war so sauber, wie seit Monaten nicht mehr. Sie fühlte sich beschwingt.
Ihre Unterhose war immer noch feucht. Es blieb ihr nichts übrig als abzuwarten, bis sie trocken war. Und ein Kleid anzuziehen, das nicht sauber war, so sehr Victoria sich auch bemüht hatte, es sauber zu halten.
Plötzlich zitterte sie vor Kälte unter ihrem nassen Haar, das ihr an Rücken und Hinterteil klebte. Sie öffnete die Badezimmertür. Es war nicht dunkel. Grelles elektrisches Licht durchflutete das Schlafzimmer.
Eine kleine Frau mit flammrotem Haar stand neben dem stummen Diener, über den Victoria am Abend zuvor ihr Kleid gehängt hatte. Ein blaues Hütchen mit frecher Pfauenfeder saß keck auf dem elegant frisierten Haar der zierlichen Frau. Hinter ihr warf der Drehspiegel das Bild einer zierlichen Frau mit flammrotem Haar und blauem Hut mit Pfauenfeder zurück. Beide Bilder hielten voller Abscheu Victorias braunes Wollkleid von sich – wie aus Angst vor Ungeziefer. Der schlanke Rücken der rothaarigen Frau war steif; die Miene auf ihrem faltigen, geschminkten Gesicht ließ Ekel erkennen. Kaum hatte Victoria diesen Eindringling bemerkt, als die ältere Frau aufschaute. Sie musterten sich schweigend: Eine aus entsetzten Augen, die andere aus kritischen. Die rothaarige Frau betrachtete Victoria abschätzend wie die Männer und Frauen, die ihrer Versteigerung beigewohnt hatten.
Victoria wurde wütend. Die Frau hatte kein Recht, Victoria zu verurteilen – weder ihr Tun noch ihre Kleidung.
Ein Perlenkollier schimmerte an ihrem Hals. Vom Verkauf dieser Perlenkette könnten sämtliche Obdachlosen Londons satt werden. Victoria hatte die Wahl, sich im Badezimmer oder hinter ihren Händen zu verstecken. Oder sich zu nehmen, was ihr gehörte.
Stolz.
Würde.
Ihr Kleid.
Sie ging zu der älteren Frau und riss ihr das braune Kleid aus den Händen, die keinen Widerstand leisteten. Die Frau war klein, nicht größer als einen Meter zweiundfünfzig; Victoria, die gut einenKopf größer war, musste den Kopf senken, um auf sie herabzuschauen. Sie hielt sich das Kleid vor die Brust, dass der braune Wollstoff ihren Körper bis zu den Füßen verdeckte, und trat mit wiedergewonnener Würde zurück.
»Ich fürchte, Sie haben sich im Zimmer geirrt, Madam«, sagte sie kalt.
» Madame «, korrigierte die ältere Frau sie gebieterisch. »Ich bin Madame René.«
Sie sprach, als gehöre sie zum französischen Königshaus oder als müsse Victoria zumindest ihren Namen kennen.
»Dennoch, Madame , Sie sind in meinem Schlafzimmer«, spie Victoria aus. »Seien Sie so gut zu gehen.«
»Dieses chambre à coucher gehört
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