Abgrund der Lust
Monsieur Gabriel, Mademoiselle, nicht Ihnen. Gewöhnlich machen wir keine Hausbesuche. Vite … wir haben keine Zeit zu verlieren. Meine Kunden warten auf mich.«
Kunden … Männer? … warteten auf sie? War die ältere Frau eine Prostituierte? Kräftige Hände entrissen Victoria den Wollstoff. Flüchtig fragte sie sich, ob Gabriel sich von hinten angeschlichen und ihr Kleid geschnappt hatte. Aber sie beide waren allein im Schlafzimmer: eine elegante, zierliche Frau unbestimmbaren Alters, nach der neuesten Mode gekleidet, und eine vierunddreißigjährige Frau, die nichts trug als ihr nasses Haar.
Die Frau, die sich Madame René nannte, umkreiste Victoria. Victoria wirbelte herum und wollte ihr Kleid zurückfordern. Zwei warme Hände legten sich auf ihre Brüste, hoben sie an und schoben sie zusammen.
»Sie haben passable Brüste, Mademoiselle« – sofort schnellten Victorias Brüste wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Madame René holte aus einer Seitentasche ein aufgerolltes Maßband. Sie zog ein kurzes Stück heraus und straffte es zwischen kleinen, schlanken Händen. Ein taubeneigroßer Diamantring blitzte am Zeigefinger ihrer rechten Hand. »Aber Sie haben weder Hüften noch derrière . Wir werden Ihnen Kleider entwerfen, die Ihren Busen betonen, oui? Und dann werden wir Hüften und derrière ein bisschen auspolstern.«
Victoria starrte auf die Frau herunter. Männer sprachen über die Brüste von Frauen; Frauen sprachen nicht über andere Frauen. Das Wollkleid lag zwischen ihnen auf dem Boden. Victoria vergaß ihre Würde. Sie hatte nackt vor Gabriel gestanden; sie würde nicht nackt vor einer Frau herumstolzieren, die ihr an die Brust fasste. Victoria tauchte nach ihrem Kleid. Ein kleiner lederbeschuhter Fuß trat das Kleid fort. Es schlitterte über den spiegelglatten Boden.
»Sie sind in meiner Obhut, Mademoiselle.« Jahrelange Autorität sprach aus dem Ton der älteren Frau. »Ich dulde nicht, dass eine meiner Frauen in Lumpen herumläuft.«
In meiner Obhut … eine meiner Frauen .
Hatte Gabriel vor, Victoria eine neue Stellung zu suchen, indem er sie zur Prostituierten ausbilden ließ? Victoria richtete sich auf, mit geschärften Sinnen nahm sie ihre baumelnden Brüste wahr, die sich im gebohnerten Holzboden spiegelten. Ein eisiges Rinnsal lief zwischen ihren Pobacken herunter. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
»Madame René, ich brauche keine Kupplerin.«
Die ältere Frau reckte sich zu voller Höhe. »Ich bin eine couturière , Mademoiselle.«
Eine Schneiderin .
Gabriel hatte gesagt, sein Haus sei kein Bordell. Warum sollte eine Schneiderin es besuchen?
»Madame, hier liegt offenbar ein Irrtum vor.« Victorias Brustwarzen stachen in die Luft zwischen ihnen. »Ich habe nicht nach einer … einer couturière geschickt.«
Die hellbraunen Augen verengten sich nachdenklich.
» C'est vrai «, sagte sie.
»Was ist wahr?«, fragte Victoria scharf und stemmte die Hände in die Hüften, statt ihre Blöße zu bedecken, wie sie es unwillkürlich wollten.
»Monsieur Gabriel, er kann nicht … wie sagen Sie Engländer … für eine Frau steif werden.«
Vor Victorias innerem Auge blitzte ein Bild von Gabriels schwarzer Seidenhose auf, als er am Vorabend vor ihr gestandenhatte. Gefolgt vom Widerhall ihrer Worte. Seiner Worte . Es hatte ihm wehgetan, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber er hatte es getan. Wie konnte diese Frau es wagen, ihn zu verurteilen?
Die aufwallende Wut wurde vom Scharfsinn hinter den braunen Augen der Frau eingedämmt. Es gab nur einen Grund, weshalb die selbstherrliche Frau hier sein konnte. Dieses chambre à coucher gehört Monsieur Gabriel, hatte sie gesagt.
»Monsieur Gabriel hat nach Ihnen geschickt«, stellte Victoria fest.
Die ältere Frau legte den Kopf schief. »Er hat nach einer meiner Schneiderinnen geschickt, oui .«
Aber er hatte nicht ausdrücklich nach Madame René geschickt.
»Und Sie sind persönlich gekommen, weil Sie die Frau sehen wollten, die er ersteigert hat«, vermutete Victoria.
»Ganz London will die Frau sehen, die Monsieur Gabriel ersteigert hat, Mademoiselle.«
Damit sie ihn verurteilen konnten. Wie er sich selbst bereits verurteilt hatte.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht, Madame René«, spie Victoria aus. »Und jetzt gehen Sie bitte. Sie können Ihren Kunden mitteilen, dass Monsieur Gabriel keinerlei Schwierigkeiten hat, für eine Frau steif zu werden.«
Und dass Victoria einen passablen Busen, aber weder Hüften noch derrière
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