Abonji, Melinda Nadj
machen. Auf jeden Fall habt ihr da nichts
verloren, das sagen wir nicht, aber fast, wenn Vater meint, er komme uns
abholen mit dem Auto, er wolle sich das mal anschauen, er wolle wissen, was das
für ein Ort sei, ohne Gesetze?, da lach ich ja im Schlaf noch, so was gibt's
nicht, gesetzlos ist nur der Krieg, und vom Krieg habt ihr keine Ahnung, nicht
die geringste, und: Warum soll ich euch nicht abholen, schämt ihr euch denn für
mich?
Vater hat heute gar nichts
gefragt, sagt Nomi, Mutter hat ihn wahrscheinlich bearbeitet, ich habe gehört,
wie sie gestern zu ihm gesagt hat, dass wir, wenn er sich weiter so benehmen
würde, bestimmt bald ausziehen, davor hat er, glaub ich, wirklich Angst, sagt
Nomi. Meinst du? Ja, ganz sicher.
Was war denn gestern los,
fragt Nomi und klopft gegen meinen Kopf im Fenster, du hast plötzlich so anders
ausgesehen, ich weiss gar nicht, Ildi, manchmal mache ich mir Sorgen um meine
grosse Schwester, und ich, die mit dem Zeigefinger Nomis Nasenspitze im
Fenster antippt, Sorgen, warum denn? Ich komme mir manchmal so unwirklich vor,
im Service vor allem, vielleicht sogar unecht, dann fange ich an zu schwitzen,
alles dreht sich ... Unecht, fragt Nomi, das verstehe ich nicht, in einem
normalen Betrieb ist man doch weder echt noch unecht, und Nomi nimmt einen
Schluck aus der Dose, die Gäste wollen was von uns, wir wollen was von ihnen,
und das Reizvolle daran ist, dass in diesem Umfeld alles ein bisschen ist wie
Katzengold. Das gefällt mir, Katzengold, antworte ich, ich glaube trotzdem,
dass es einen echten Kern geben muss, in der eigenen Arbeit ... Mein Kern geht
niemanden im Mondial was an, unterbricht mich Nomi, und mein echter Kern schon
gar nicht, Ildi, verbeiss dich nicht in Dinge, die sich nicht ändern lassen;
Nomi, die mich in die Arme nimmt, lass uns von was anderem reden, von unserer
Zukunft beispielsweise, von unserer Zukunft? Ja, weisst du, was wir tun, wenn
wir alt sind?, und Nomi berührt mit ihrer Nasenspitze meine Stirn, wir ziehen
zusammen wie Frau Köchli und Frau Freuler, und wir zotteln gemeinsam durch den
Nachmittag, essen grandiose Süssigkeiten, wir lesen uns vor, also du liest vor,
und ich höre zu. Ich kann mir eigentlich nichts Schöneres vorstellen, antworte
ich.
Wohlgroth, so heisst unser
Ort, eine ehemalige Fabrik, die jetzt besetzt ist, wir gehen auf den Häuserkomplex
zu, vor dem sich Müllsäcke türmen, besprayte Container, die überquellen,
Fahrräder, die kreuz und quer rumstehen, schon viel los, sagt Nomi, die
Aussenwände sind bemalt, verschmiert, sagen die einen, Farbkleckse, Striche und
Figuren, Zeichen, Botschaften, und Nomi und ich, wir halten uns an den Händen,
als seien wir ein Paar, man kennt uns, hallo, ihr beiden, ruft Suhansky, seine
Augen stehen schon schief, na, wie steht's, wie geht's?, und selber?, und im
Innenhof brennt ein Feuer, Hunde, die ums Feuer rennen, andauernd die Richtung
wechseln, heulen, was ist denn hier los?, ach so, ah ja, ein heidnisches
Frühlingsfeuer, und Nomi und ich, wir bleiben einen Moment lang stehen, sehen
den Hunden zu, wie sie immer wilder werden, als jemand noch einen halben Stuhl
ins Feuer wirft, kaputtes Kinderspielzeug, irgendwelchen Müll, Zeitungen,
Zeitungen, einen ganzen Stoss voll, verdammte Lügner, diese Journis!, schreit
Suhansky, halt die Klappe, ruft ein anderer, der seinen Hund zu beruhigen versucht;
komm, wir gehen nach oben, sagt Nomi, ja, die Treppe hoch zu unserem
Lieblingscafe, wo man die Stadt sieht, die Gleise, wo ich gern sitze, um die
ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten, wo ich das erste Mal in meinem Leben
einen Tschai getrunken habe, was nichts Verrücktes ist, sondern ein Gewürztee
mit Milch und Honig, aber ich kam mir verwegen vor, wichtig; man kennt uns,
weiss, dass wir aus Jugoslawien kommen, das ist fast so, als käme man aus
Moskau — und Nomi und ich, wir rauchen, zeigen uns gegenseitig, was sich seit
unserem letzten Besuch verändert hat, eine Madonnafigur aus Plastik, die über
der Bar flimmert, in Rosa, Gelb, Hellblau und Grün, das gesprayte Wandbild, das
weiterwuchert, unzählige Figuren, die ineinander verschlungen sind, Menschen,
die zu Tieren mutieren, schau mal das Monster da, sagt Nomi, zeigt auf ein menschenähnliches
Ungetüm, das mit aufgeblähtem Kopf, aber perfekt gezogenem Mittelscheitel Münzen
und Geldscheine in seinen Hals wirft, ein gut durchbluteter Hals, sage ich, und
wir lachen, weil die roten Bahnen so gut gesprayt sind, dass man das
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