Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
Vom Netzwerk:
lässt
sich eine verschmierte Wand, die eigentlich gar nicht so schlimm aussieht,
entschuldigend erklären?, ich, die sich die Wand anschaut, die braunen Spuren,
Buchstaben?, nein, eine Botschaft ist nicht zu entziffern (ich müsste mich beim
schüchternen Lehrer bedanken, ihm sagen, dass ich seine Verklemmtheit
nachvollziehen kann); es fällt mir nichts ein, was die verschmierte Wand zu
einem Missgeschick werden lassen könnte, und weil mir nichts Beschwichtigendes
einfällt, ziehe ich die Handschuhe aus, werfe sie auf den Boden; es ist also
offensichtlich, dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat, deshalb will
ich auch kein Plastik zwischen mir und der Scheisse haben; ich nehme mit
blossen Händen den Lappen, nässe ihn, fahre mit der Handfläche über die Wand,
und das Wasser erweckt die fast schon eingetrocknete Scheisse zu neuem Leben,
wie gesagt hat sich meine Nase durch Fäkaliengeruch nie irritieren lassen, und
die Scheisse verwandelt sich in braune Schmiere, ein Dorf, eigentlich eine
Kleinstadt, mit circa 10.000 Einwohnern, mit einer goldenen Blume im Wappen,
mit Villen am Ufer, die fast in den See kippen, mit Arztpraxen da und dort, mit
Anwaltskanzleien da und dort, mit einem Naturschutzgebiet, das Flusskrebse,
rote, überfallen, selbstverständlich mit Genossenschaftshäusern, deren Baujahr
ich vergessen habe, mit Geschäften für jedes kleine Bedürfnis, mit Schwimmbad,
Sportplatz und Kunsteisbahn — dem Kredit zu deren Überdachung wird stattgegeben
—, mit Schiessplatz, Burgruine und einem Findling namens Alexanderstein, eine
Kleinstadt, die sich von hunderten andern nur dadurch unterscheidet, dass sie
noch reicher und steuergünstiger ist als andere, wir, die nie tätlich
angegriffen worden sind, verbal beleidigt, das schon, Schissusländer!, Scheissausländer!, die am
häufigsten gehörte verbale Attacke — und ich zwinge mich, die Szene zu Ende zu
denken - im Mondial hat uns noch nie jemand "Schissusländer" genannt,
unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere
Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung
passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser
Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt
(samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt,
wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette,
Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine
undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem
die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann (würde ich das tun und ausfällig
werden, fluchen, ich nehme Ihnen Ihre nette Art verdammt noch mal nicht ab!,
würde man mich gelassen auflaufen lassen: Fräulein, ich verstehe Sie nicht ...
ist Ihnen etwas über die Leber gelaufen?), kein Durchgedrehter, Abnormaler,
unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheisse in die Hand genommen und sie an
unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch (ich, die "Scheisse"
schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger
das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich "Scheisse"
zu, Jugo und Scheisse, das passt zusammen, die Bürgerinnen und Bürger, die in
ihrem kultivierten Leben Wasser lassen, Stuhlgang haben, die Tatsache, dass die
Scheisse an der Wand klebt, beweist doch, dass wir, sie, schmutzig sind), wer vermisst
eine verschissene Unterhose?, die Dorfpost, die mein Kleininserat vermutlich
nicht abdrucken würde, die Dorfpost, die unsere Familie vor sechs Jahren
porträtierte, die Gemeinde, die demokratisch für uns oder gegen uns abstimmen
durfte, saubere Finger, die ihr Stimmrecht wahrnehmen, ich, die vor
versammelter Gemeinde meine Hand erhebe, in die Gemeindegesichter blicke,
frage, wer hat unser Klo mit Scheisse verschmiert?, der Dorfbach, der in die
plötzlich entstandene Stille hineinplätschert —.
    Aus heiterem Himmel beginnt es
zu regnen, so dass etliche Bürgerinnen und Bürger, die sich schon auf den Weg
gemacht haben ins Gemeindehaus, nochmals umkehren, um zu Hause den Schirm zu
holen oder sich einen Regenschutz anzuziehen, nicht wenige treffen also
verspätet ein, stellen die Schirme in die Schirmständer, kleine und grössere Wasserlachen,
die sich bilden, wachsen, sich zu Wasserlandschaften ausweiten. Ich sehe, wie
die Frauen und Männer ihre Jacken und Mäntel aufhängen, an nüchtern

Weitere Kostenlose Bücher