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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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ich
immer noch, wie Dragana am Spülbecken steht, in die Salatblätter hineinweint,
leise, fast unhörbar, ihr Rücken, der von ihrem Schmerz erzählt, von der Angst
um das Leben ihres Kindes, ihrer Familie, ich kann nicht hier bleiben und
warten, bis die meinen Sohn erschiessen, sagte Dragana, obwohl — es gäbe auch
eine Hoffnung, denn wenn ihr Sohn verletzt würde, könnte er vielleicht aus
Sarajewo geschleust werden, verletzten Kindern werde am ehesten geholfen, und
ich, sprachlos darüber, was zur Hoffnung werden kann, Dragana, die seit einer
Woche nicht mehr zur Arbeit erschienen, unauffindbar ist), darf ich dir rasch
eine Geschichte erzählen, fragt mich Marlis, als ich eine dreckige
Küchenschürze anziehe, später, sage ich, versprochen?, versprochen!, und ich
nehme den Schrubber, den Eimer, die Lappen aus dem Putzschrank, die
Plastikhandschuhe, die gelben, und ich warte auf einen günstigen Moment, wo ich
unbemerkt mit Schrubber, FJmer, Lappen und Plastikhandschuhen in der
Herrentoilette verschwinden kann (es brauchen ja nicht alle zu sehen, wenn wir
die Toilette reinigen), ich, die die schwere Tür mit den Schultern aufstösst
und als erstes ihr Gesicht im Spiegel sieht, ich bleibe stehen, höre, wie sich
die schwere Tür lautlos hinter mir schliesst, sehe den Schrubberstiel neben
meinem Kopf, ich, mit hochgestecktem Haar, schaue mir in die Augen, und es
fällt mir ein Wort ein, Einfaltspinsel, wahrscheinlich wegen dem
Schrubberstiel, und ich sehe im Spiegel nicht nur mich, sondern das, was das
Fräulein erwartet.
     
    Eine verschissene Klobrille,
eine Männerunterhose, die neben der Kloschüssel liegt, die gemaserte Wand, die
nicht mehr weiss, sondern mit Scheisse verschmiert ist (der Spiegel fügt alles
zusammen) — ich schaue, ich warte, gleich wird etwas passieren, mein Herz wird
rasen, so schnell, dass ich seinen pochenden Rhythmus an den Schläfen spüren
werde, zwischen meinen Schulterblättern wird ein ganz bestimmter Punkt wüten,
ein stechender Schmerz, der mir den Atem verschlagen wird, ich warte, und
Rumpelstilzchens irrer Tanz fällt mir ein, wie plötzlich die Marmeladenfüllung
herausquillt, wenn man in einen Pfannkuchen beisst, aber sonst passiert —
nichts. Ich, die sich nach dem Eimer bückt, ihn ins Becken hebt, am Hahn dreht,
und während das Wasser einläuft, ziehe ich die Handschuhe an, die Hände, die
das einlaufende Wasser nur noch dumpf spüren, und als der Eimer halbvoll ist,
drehen die gelb eingepackten Finger in die falsche Richtung, das Wasser, das
mit einem scharfen Strahl in den Eimer schiesst, auf die Haut, in die Augen
spritzt, und ich, die wieder einen langen Moment wartet, drehe den Hahn zu,
schaue ihr zu, wie ihr die Wassertropfen über das Gesicht laufen, und jetzt der
unausweichliche Gedanke: Wir sind ein Herz und eine Seele geworden, ich und
das Fräulein; und ich, die den Eimer packt, den Schrubber, gehe zum Fenster,
öffne es, nicht weil mir vom Geruch nach Scheisse übel wird, sondern weil ich
mir von der frischen Luft, vom Blick nach draussen erhoffe, dass sich irgendwas
in mir regt, irgendein Gefühl; ich, die den Eimer abstellt, den Fenstergriff
nach oben drückt, und es sind meine Finger, die im gelben Plastik schwitzen,
ein Tag mit einem nicht ernst gemeinten Nebel, das heisst die Sonne wird sich
in Kürze durch die Nebeldecke drücken, und ich, deren Blick auf einen friedlich
eingezäunten Obstgarten fällt, sehe meine Mutter, wie sie sich nach Eimer und
Lappen bückt, wie sie den Schrubber aus dem Putzschrank holt, sich die
Handschuhe überzieht, als gäbe es nichts Normaleres, das gehört dazu, sagt
Mutter, in den allermeisten Fällen macht niemand absichtlich daneben, schlimm
genug, wenn jemand sein Wasser nicht mehr halten kann; stimmt sicher, denke
ich, schliesse das Fenster, drehe mich um, mit einem Ruck, mache die paar
Schritte zur Kloschüssel, schaue mir alles ganz genau an — und wenn ich nichts
fühle, werde ich wenigstens meinen Kopf einschalten, die Szene hier zu Ende
denken —, ja, es ist vorstellbar, dass jemandem ein Missgeschick passiert ist,
dass es nicht mehr gereicht hat, die Kacke in der Schüssel zu platzieren, weswegen
die Klobrille angeschissen ist, und weil eben ein Teil schon in die Unterhose
ging, musste dieser Jemand sie auch ausziehen; und eine verschissene Unterhose
kann man nicht gut mitnehmen, deshalb liegt sie jetzt da, neben der Kloschüssel
- vielleicht müsste es auch in Männerklos Hygienebeutel haben? Aber wie

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