Abonji, Melinda Nadj
und der Herr Pfarrer vermisst mich
bestimmt schon in seiner Kirche, und ich habe Sie angeschaut, als verstünde ich
Sie nicht, und Sie haben Ihre Tasche gepackt, Sie haben Ihre schwarzen Kleider
in die Tasche gelegt, die Strickjacken, ich glaube, Sie haben mich darum
gebeten, etwas für Sie zu zeichnen, aber ich habe nichts gezeichnet, und wenn,
haben Sie mich nur ein Mal darum gebeten und dann nicht wieder, Sie haben mich
in die Arme genommen, am Abend vor Ihrer Abreise — ich weiss nicht, ob Nomi
auch dabei war —, haben ein Lied gesungen, ich habe Ihre Stimme in meinem
Körper gespürt, und alles in mir hat sich geweigert, Sie gehen zu lassen, und
erst als der Zug wegfuhr, habe ich begriffen, dass das der wirkliche Abschied
war und nicht der in der Vojvodina, als all unsere Verwandten uns besucht haben
oder wir sie, als uns alle irgendwas zusteckten, uns mit Händen und feuchten
Augen küssten, sogar am Tag unserer Abreise blitzte der Abschied nur auf, als
Nomi wegen dem Reisigbesen weinte, den sie nicht mitnehmen durfte und ich
wegen meiner Lieblingskatze Cicu; jetzt, wo Sie im Zug wegfuhren, war es so,
wie wenn meine ganze bisherige Welt von mir wegfahren würde, Ihr Haus, Ihr
Garten, die geliebten Tiere, der Staub und Dreck, der bleiche Herr Pfarrer in
seiner dunklen Kirche, das Stimmengewirr auf dem Markt, der schwere, süsse Duft
nach frischen Pfannkuchen, Palatschinken, Onkel Piris Augen, die schönsten
Augen der Welt, so fanden Nomi und ich, Tante Icu, die uns mit Süssigkeiten
verwöhnte, an den Wochenenden, die wir bei ihr und Onkel Piri verbrachten,
damit Sie die frühe und späte Messe besuchen konnten; ich habe mit einem Mal
alles vermisst, die lauten Stimmen der Menschen, die ihre Zähne zeigten, die
staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die so zärtlich waren
mit der Luft — ich habe alles, was ich geliebt habe, mit Ihrer Abreise
verloren, aber als Nomi mich am Abend fragte, vermisst du sie?, bist du
traurig?, blieb ich stumm.
Später, in den wenigen
Momenten, wo es möglich gewesen wäre, über diesen plötzlichen Abbruch unseres
bisherigen Lebens zu reden, war immer sofort klar, dass Mutter und Vater, im
Zusammenhang mit unserer Heimat, die tieferen, schmerzhafteren Gefühle für
sich beanspruchen durften; das, was in Nomi und mir damals vorging, hatte wenig
oder kein Gewicht.
Hände in der Luft
Ein grosser, unauffällig
gekleideter Mann bleibt vor dem Buffet stehen, räuspert sich, Fräulein, sagt
er, mit einer Stimme, die wieder in den Hals zurückmöchte, Fräulein, darf ich
Ihnen etwas sagen? Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass der Mann
mich angesprochen hat, aber statt auf ihn schaue ich auf seinen Hemdkragen, auf
seinen dunkelroten V-Ausschnitt-Pullover, vielleicht ein Musiklehrer, ein
schüchterner, denke ich, ja bitte?, und ich schaue ihm jetzt ins Gesicht, der
Mann, der sich nochmals räuspert, nach hinten blickt, als müsste er prüfen, was
sich hinter seinem Rücken abspielt, und er beugt sich jetzt vor über die Theke,
in meine Richtung, winkt mich zu sich heran, spricht so leise, dass ich
nochmals nachfragen muss, wie bitte?, und er lächelt, als er sagt, Fräulein,
schauen Sie sich doch mal Ihre Toilette an, er lächelt so eigenwillig charmant,
dass ich mich, was ungewöhnlich ist, mit dem schüchternen Lehrer unterhalten
möchte, es ist doch nicht meine Toilette, antworte ich, das Personal hat eine
eigene, im Keller, sage ich genauso charmant und mit einer Stimme, als würde
ich ihm ein Geheimnis verraten. Fräulein, ich, sagt der Mann, wie soll ich
sagen ... seine komische Schüchternheit, die mich von meiner trüben Stimmung
ablenkt, sagen Sie es einfach, unterbreche ich ihn, ich kann nicht, sagt er,
ich, die lachen muss, entschuldigen Sie, aber Ihre Art bringt mich zum Lachen,
der Mann, der sich im nächsten Moment mit einem hochroten Kopf verabschiedet,
sich wieder an seinen Platz setzt, ganz vorne, neben dem Eingang, und ich merke
erst jetzt, dass Toiletten sich nicht unbedingt dazu eignen für ein
scherzhaftes Gespräch.
Was wollte der, fragt mich
Nomi, irgendwas scheint mit der Toilette nicht in Ordnung zu sein, antworte
ich, Nomi, die meint, sie werde nachschauen, mach ich selber, sage ich, ob sie
einen Moment lang klar komme ohne mich oder ob ich Mutter rufen solle, nein,
geht schon, antwortet Nomi, und ich lege meine Buffetschürze auf den Stuhl,
gehe in die Küche (und im ersten Moment, wenn ich in die Küche komme, sehe
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