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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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Erinnerung
bricht da ab, am Bahnhof, als wir am Bahnsteig standen, von Mutter und Vater
abgeholt wurden.
    Ich erinnere mich aber sehr
genau, dass wir uns in dieser Zeit, nach ein paar Tagen, oder Wochen?, verirrt
haben, Sie und ich, wir gingen am See spazieren, wir haben die Schwäne
bewundert mit ihren langen Hälsen, wir haben erstaunt zugeschaut, wie die
Schwäne und Enten mit Brot gefüttert wurden, wir sind bei jedem Abfalleimer
stehen geblieben, haben sogar in sie hineingeschaut, so schön und gepflegt kamen
sie uns vor, und weil es an dem Tag oder einen Tag zuvor geschneit hatte, habe
ich bei jeder Bank, an der wir vorbeikamen, Schneezeichnungen gemacht, und Sie
müssten erraten, was ich gezeichnet hatte, wir waren so vertieft darin und in
alles, was wir sahen, dass wir plötzlich nicht mehr wussten, wo wir waren, und
es war bereits dunkel, wir müssen jemanden fragen, haben Sie gesagt, aber was?,
was sollen wir fragen und wie?, wir wussten nur, in welcher Strasse wir
wohnen, und Sie haben "Entschuldigen Sie" gesagt, auf Ungarisch,
haben die Hand ausgestreckt, als eine Frau mit zwei Einkaufstaschen auf uns
zukam, Todistrass, haben Sie
gesagt und die Schultern hochgezogen, die Frau hat den Kopf geschüttelt, hat
irgendwas gesagt und ist weitergegangen. So ging das eine ganze Weile, niemand
schien die Todistrass zu kennen.
Unsere Finger waren steif, und ich erinnere mich, dass Ihre schmale Nase ganz
rot war, Ihre Augen vor Aufregung glänzten, als Sie einen älteren Herrn
ansprachen, wieder nach der Todistrass fragten; der Herr, der eine merkwürdig flache Kappe
trug, lächelte, er zeigte mit dem Finger in die Nacht hinein, sagte
Tödistrasse, und als er merkte, dass wir mit seinem ausgetreckten Finger nicht
viel anfangen konnten, führte er uns durch die Strassen, an Ampeln vorbei,
einen Hang hoch, bis wir vor unserem Haus standen, Vater, der schon rauchend
vor der Garage wartete, auf uns einschimpfte, nachdem er sich beim Herrn für
seine Hilfe bedankt hatte.
    Sie und ich, wir haben nachher
jeden Tag darüber geredet, über diesen winzigen Unterschied, o oder ö, dass das
niemandem aufgefallen war ausser diesem einen Herrn, das hat uns erstaunt,
erschreckt, und wir haben geübt: Tödistrasse, Tödistrasse, wie wenig es doch
braucht, und man ist ganz verloren in der Welt, haben Sie gesagt.
    Mutter und Vater haben
tagsüber gearbeitet, Nomi und ich, wir haben mit Ihnen gekocht, die Wäsche
gemacht, wir sind zum Spielplatz gegangen, hinter dem Haus, eine Rutschbahn,
zwei Schaukeln, ein abgedeckter Sandkasten, wir Hessen den Schnee schaukeln,
wir haben Eier geformt, aus Schnee, leg ten sie auf die Stufen der Rutschbahn, wo sind die
Hühner, hat Nomi gefragt, warum kräht kein Hahn?, warum sieht man niemanden?
Das Erstaunen darüber, dass es so still war, so still und so schön, als gäbe
es eine geheime Übereinkunft darüber, dass die Dinge, die uns umgaben, nur dazu
da sind, um von uns bestaunt zu werden, in ihrer Schönheit. Und wir haben
weitergespielt, auf dem Spielplatz, aber wir wagten nicht, auf den Zaun zu
steigen, der an den Spielplatz grenzte, sicher auch deshalb, weil wir neu waren
und nichts Falsches machen wollten, weil wir nicht wussten, ob dieser Zaun auch
uns gehörte oder nicht, wir benehmen uns am Besten so, als wären wir Gäste,
haben Sie gesagt, und mit der Schneeschaufel, die tagelang am Hinterausgang an
der Wand lehnte, spielten wir erst, als wir begriffen, dass sie dem Hauswart
gehörte, und der Hauswart, das waren Mutter und Vater, die die Hauswartstelle
übernommen hatten, um noch etwas dazuzuverdienen, zu ihren minimalen Löhnen.
    An den Abenden sassen wir
zusammen am Küchentisch, assen das, was Nomi, Sie und ich gekocht haben,
Gerichte, die wir sowieso schon immer zusammen gekocht hatten; das ist schön,
am Abend nach Hause zu kommen, in eine warme Küche, hat Mutter gesagt und
wollte mich umarmen, ich hängte mich an Ihren Rockzipfel, drehte mein Gesicht
weg, in den warmen, dunklen Stoff Ihres Rockes, weg von Mutters Wunsch, mir nah
zu sein, denke ich heute, meine grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass
nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika, und wenn Vater sagte, du bist
gross genug, um Mamikas Rockzipfel loszulassen, habe ich ihm in die Augen
geschaut, es war mir vollkommen gleichgültig, was Mutter und Vater sagten, und
Sie, Sie haben nur gesagt, lasst das Mädchen in Ruhe, sie braucht Zeit.
    Ich fahre nach Hause, ich muss,
meine Tiere, der Garten, haben Sie gesagt,

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