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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Und ich muss furchtbar dringend zur Toilette.
    »Ist es wirklich wahr, dass die Deiche rechts und links von euch nur noch so ein Stückchen –« Bianca hält ihre Hände ungefähr zehn Zentimeter übereinander »– über das Wasser geragt haben?«
    »Ja. So ungefähr.«
    Sie schüttelt mitleidig den Kopf. Dann krallt sie sich mit ihren pfirsichfarbenen Fingernägeln eine der Vorspeisen und steckt sie sich mit einem Bissen in den Mund. »Ich finde es mutig von dir und Harald, dass ihr hier wohnen wollt. Bei dem Klimawandel weiß man ja nie. Wenn Bernard und ich heiraten, müssen wir vorher noch mal ein ernstes Wörtchen darüber reden, wo wir hinziehen werden.« Zum Abschied packt sie mich am Arm und dreht sich dann abrupt von mir weg.
    Während ich kaum glauben kann, dass ich von meiner Gesprächspartnerin erlöst bin, wanzt sie sich schon an unseren Steuerberater heran, der sich gerade ein Glas Taittinger einschenkt.
    Dankbar für meine wiedergewonnene Freiheit, räume ich die leeren Körbe und Gläser von den Tischen ab und trage sie ins Haus. Drinnen ist es seltsam leer. Der Fernseher läuft nicht, und es sind weder Kinderstimmen noch die Geräusche einer Spielkonsole zu hören. Fleur und Charlotte übernachten beide bei Freundinnen.
    Ich stelle das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, lege ein Baguette auf ein Holzbrett, schneide es in dünne Scheiben und verteile diese auf zwei Brotkörbe. Dann gehe ich hinaus in die Diele und zur Toilette. Ich lege die Unterarme auf die Knie und starre die schwarzen und beigefarbenen Natursteinplatten und die Spitzen meiner offenen Schuhe an. Kurze Grashalme hängen darin – Harald hat heute Morgen den Rasen gemäht. Ich zupfe die Halme heraus und lasse sie zwischen meinen Beinen hindurch in die Toilettenschüssel fallen.
    Ein Glas Wein oder, besser noch, Champagner wäre mir mehr als willkommen, aber ich wage es nicht, einen Tropfen Alkohol zu trinken, weil ich am Abend ein Beruhigungsmittel genommen habe. Es fällt mir schwer, meine Gedanken zusammenzuhalten und wach zu bleiben.
    Während ich mir die Hände wasche und mit einem Gästehandtuch abtrockne, denke ich an 1993 und die Fernsehbilder von dem steigenden Wasser zurück, daran, wie Feuerwehr und Militär versuchten, die Deiche mit Sandsäcken zu verstärken. In diesem Jahr ist Papa gestorben. Ich kann mich noch an die Aufregung rund um die Überflutungen erinnern, an die Evakuierungsmaßnahmen und die fassungslose Nachrichtensprecher, aber damals hat mich das alles nicht beeindruckt. Es gab Dringenderes, womit ich fertigwerden musste.

10
    Wir saßen nebeneinander auf dem Bett, und ich lackierte meine Fußnägel. Ein neuer Farbton. Claudette hatte den Nagellack kurz zuvor im Kaufhaus gekauft, ebenso wie eine Batterie an Lippenstiften, Lidschatten und eine sündhaft teure Foundation, die versprach, nicht abzufärben.
    Es war ein warmer Spätsommernachmittag. Die Sonne stand tief und beschien kraftlos die hellrosa Tapete an der Wand über Claudettes Bett. Es wäre ein schöner Nachmittag gewesen, wenn das Fenster nicht weit offen gestanden hätte und der Lärm der vorbeifahrenden Autos und knatternden Mopeds von der viel befahrenen Straße vor ihrer Zweizimmerwohnung nicht jedes normale Gespräch unmöglich gemacht hätte. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich sogar den Verkehrslärm der Autobahn hören, und die lag mindestens zwei Kilometer entfernt.
    Wenn ich daran zurückdenke, wird mir klar, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal erkannte, wie satt ich die Stadt hatte und dass ich dort nicht mehr länger leben wollte. Der Smog. Der Lärm. Tausendundein Nachbar, den man nicht kannte – oder besser: nicht einmal kennen wollte. Taschendiebe. Betrunkene Penner. Junkies. Der Gestank von Abgasen.
    Ich blickte durch das Fenster hinaus in den blauen Himmel mit den rosafarbenen Schleierwölkchen, hoch oben über den Dächern der Stadt, und versuchte, mir vorzustellen, worauf die Sonne sonst noch schien außer auf diese Stadt. Auf Felder und Bauernscheunen. Auf Flüsse, auf denen schwer beladene Schiffe fuhren, und auf Windmühlen, deren Flügel sich langsam drehten; Gegenden, in denen man nichts als den Wind hörte. Wiesenvögel. Kühe und Schafe. Dann und wann ein bellender Hund.
    Dort, in diesem grünen Land, wohnten ebenfalls Menschen, und die kannten bestimmt ihre Nachbarn, und sie konnten sich rund um ihr eigenes Haus frei bewegen, ohne dass sie von Junkies oder betrunkenen Idioten belästigt wurden. Sie hatten

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