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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Sie will aufstehen. »Soll ich sie dir schon mal mitgeben?«
    »Nein, gib sie ihnen lieber selbst, wenn du in zwei Wochen kommst, darüber freuen sie sich bestimmt sehr.«
    Beim Abschied umarme ich sie fest und küsse sie auf die Wange. Ich sehe sie an und nehme sie noch einmal in den Arm. »Pass gut auf dich auf, Mama. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde.«
    »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich wohne hier schon so lange!«
    Während ich die Treppe hinuntergehe, höre ich, wie sie ihre Tür abschließt. Zwei, drei Schlösser. Sie verriegelt ihre Wohnung hermetisch vor der Außenwelt, wie eine Festung.
    Ein städtisches Gefängnis.
    Ich setze mich in mein Auto und drücke auf den Knopf für die Zentralverriegelung. Langsam mache ich mich wieder auf den Weg. Im Vorüberfahren werfe ich einen Blick auf den Dönerladen.
    Meine Mutter hatte recht. Hätte mein Vater noch gelebt, hätte alles anders ausgesehen.
    Doch ich bezweifle ehrlich gesagt, ob es besser ausgesehen hätte.

8
    Meine Mutter stammt aus dem Gooi, einer Gegend in der Nähe von Amsterdam. Ihre Eltern besaßen dort mehrere Bekleidungsgeschäfte, obwohl ich das nur vom Hörensagen weiß, denn ich bin nie da gewesen. Nachdem meine Mutter in den siebziger Jahren zu meinem Vater in die Hafenstadt gezogen war, fuhr sie nur noch selten nach Hause, und auch ihre Familie besuchte uns nur in Ausnahmefällen. Sie behaupteten, sie hätten zu viel zu tun, mit den Geschäften, den Kindern, der Nachbarschaft, tausendundeiner Verpflichtung, doch in Wirklichkeit war ihre Abneigung einfach zu groß.
    Von klein auf wusste ich, dass meine Mutter mit einem Silberlöffel im Mund und einem Benimmbuch in den Händen geboren worden war. Papa dagegen hatte mit Umgangsformen wenig am Hut, er hätte das Wort ja kaum buchstabieren können. Er war Lkw-Fahrer bei einer internationalen Spedition und fuhr in einem riesigen DAF -Laster quer durch ganz Europa. Wenn er zu Hause war, parkte er seinen Truck einfach mitten in unserer Straße, sodass kaum noch ein anderer sein Auto abstellen konnte. Doch nur wenige Nachbarn beschwerten sich darüber.
    Zum Glück für die Nachbarschaft war mein Vater oft und lange von zu Hause weg. Meine Mutter und ich mussten uns mit Billy begnügen, einem Geschenk meines Vaters. Billy war ein schwarzer Hund mit Falten und Runzeln im Gesicht, groß wie ein Pony – bis ich fünf wurde, durfte ich auf seinem Rücken reiten. Er sollte uns vor Einbrechern, Kinderfängern und vor allem Gerichtsvollziehern beschützen, bis Papa wieder nach Hause kam und uns mit seiner Trunkenheit und seinen falschen Freunden vor neue Verteidigungsprobleme stellte. Als ich klein war, begriff ich das noch nicht, aber im Grunde hatte meine Mutter zwei Kinder: mich und ihren ewig pubertierenden Ehemann. Und beide liebte sie von ganzem Herzen.
    Meine Mutter scheut keine Herausforderung – meine Streitbarkeit und Beharrlichkeit habe ich von ihr. Sie ist eine Frau, die eine einmal getroffene Entscheidung nicht gerne revidiert. Doch obwohl ich glaube, dass sie es mit einem braven, geradlinigen Mann nicht so lange ausgehalten hätte, denke ich doch, sie hätte andere Entscheidungen getroffen, wenn sie die Konsequenzen hätte erahnen können.
    Auch mein Leben wäre dann ein anderes gewesen. Denn indirekt waren es die Fehler meines Vaters, die später zu einigen ausschlaggebenden Entscheidungen in meinem eigenen Leben geführt haben.
    Mein Vater hatte die Angewohnheit, einen unverantwortlich großen Teil seines Einkommens darauf zu verschwenden, in der Kneipe Runden zu schmeißen und sich allen möglichen Luxus zu erlauben. Er war verrückt nach Fernsehen, kaufte populäre Filme gleich nach dem Erscheinen und sorgte dafür, dass immer die neueste Technik im Haus war. Ich hatte schon mit elf eine nagelneue Stereoanlage und Diskobeleuchtung in meinem Zimmer und kann mich erinnern, dass Billy einmal ein neues Halsband aus englischem Kupfer trug, das dreihundert Gulden gekostet hatte. Später erfuhr ich, dass sogar unsere Urlaube in Spanien auf Pump finanziert waren. Als mein Vater einen Schufa-Eintrag erhielt, durch den er keine weiteren Kredite mehr bekam, änderte sich im Grunde nichts. Alles ging genauso weiter wie zuvor, aber jetzt auf den Namen meiner Mutter.
    Mein Vater war starker Raucher. Er starb an einem Lungenemphysem, als ich siebzehn war. Wir betteten ihn zwischen sechs Brettern zur ewigen Ruhe und begruben ihn auf dem Friedhof Hofwijk. Dass die schlichte

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