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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Beerdigung von der Versicherung bezahlt wurde, war der einzige Glücksfall. Nach seinem Tod rannten uns die Energieversorger, die Wohnungsbaugenossenschaft und vor allem die Versandhandelsunternehmen die Türe ein, die uns früher bereitwillig Waschmaschine, Trockner, Fernseher, Spielekonsole, Videorekorder und Stereoanlage auf Kredit geliefert hatten und jetzt bis in alle Ewigkeit dafür entschädigt werden wollten.
    Wir waren daran gewöhnt, ab und an Schwierigkeiten mit Gerichtsvollziehern zu haben. Als Kind habe ich oft genug durch den Briefschlitz gerufen, meine Eltern seien nicht zu Hause, während meine Mutter in der Küche Kartoffeln schälte. Doch wenn es brannte, trieb mein Vater jedes Mal irgendwo Geld auf, immer gerade genug, um die schlimmsten Löcher zu stopfen. Wir wussten nicht, woher das Geld stammte. Es war einfach plötzlich da.
    Aber dann war Papa nicht mehr da.
    In dem verzweifelten, aber durchaus vernünftigen Versuch, unseren Problemen ins Auge zu sehen, schrieb Mama alle Schulden fein säuberlich in einem Heft untereinander. Hin und wieder strich sie einen Posten durch, aber am unteren Ende tauchten immer wieder neue Beträge auf. Die Liste wurde länger und länger.
    »Warum sind alle gegen uns?«, fragte ich eines Abends, als Mama mit dem Rücken zu mir am Küchentisch saß.
    Vor ihr stapelten sich Mahnungen, das Heft lag aufgeschlagen daneben. Mama weinte lautlos. Sie gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie schwer sie es hatte, aber ich sah, wie ihre Schultern zuckten, und hörte ihren stoßweisen Atem.
    »Dein Vater … Er wollte so viel mehr aus dem Leben herausholen, als für ihn drin war«, sagte sie schließlich. »Und du kennst ja das Sprichwort: hohe Bäume, lange Bretter.«
    Mama legte sich als Putzfrau krumm, und ich stand vierzig Stunden die Woche in einem Schuhladen. Wir taten, was wir konnten, aber wenn wir so weitergemacht hätten, hätte es noch viele Jahre gedauert, bis wir die Last von Papas Erbe getilgt hätten.
    In demselben Jahr lernte ich Claudette kennen, die meine beste Freundin wurde.
    Mit ihr hat eigentlich alles angefangen.

9
    »Hast du keine Angst vor Hochwasser?«, erkundigt sich die Frau, die sich mir bei ihrer Ankunft als Bianca van Laar vorgestellt hat. Sie ist die Begleiterin von Bernard Lely, dem Direktor der örtlichen Bank, und hat mir in der letzten halben Stunde mehr Fragen gestellt, als sich Charlotte und Fleur zusammen an einem ganzen Tag ausdenken können. Bianca ist eine Schönheit, hat sich aber nicht vorne angestellt, als es um die Verteilung der Klugheit ging. Allerdings hat sie einen beeindruckenden Busen, den sie großzügig zur Schau stellt.
    Ich muss vorsichtig mit ihr umgehen. Harald legt großen Wert auf ein gutes Verhältnis zur Bank, und sie ist Lelys neue Eroberung. Im Stillen habe ich so meine Vermutung, wo der farblose Bernard Lely eine Frau wie Bianca kennengelernt haben könnte. Jedenfalls nicht in der Kirche.
    »Hier hat es doch mal eine Flutkatastrophe gegeben?«
    »Nein«, erwidere ich, »hier nicht.« Ich blicke mich rasch um. Es haben sich Grüppchen gebildet, niemand steht abseits. Alle scheinen sich zu amüsieren und sich gut zu unterhalten. Noch keine leeren Gläser.
    »Tut mir leid, wenn ich das Thema anschneide«, höre ich Bianca sagen. »Aber Bernard und ich haben uns auf dem Weg hierher darüber unterhalten, und ich stamme nicht aus der Gegend, wie du weißt. Damals habe ich in den Nachrichten davon gehört. Wie schrecklich das gewesen sein muss! Bernard hat mir erzählt, dass die ganze Gegend abgesoffen wäre, wenn die Flussdeiche nicht gehalten hätten. Acht Meter hoch hätte das Wasser gestanden, hat er gesagt.« Ängstlich blickt sie an mir vorbei zu unserem Haus und hoch zum Dach, als stelle sie sich vor, was davon nach einem Deichbruch noch über die Wasseroberfläche ragen würde. Dann wendet sie sich wieder mir zu. »Dieses viele Wasser überall! Findest du die Vorstellung nicht beängstigend?«
    »Ach, die Deiche brechen nicht so schnell.«
    »Machst du dir denn gar keine Sorgen?«
    Nicht darüber, dass die Deiche brechen könnten, nein.
    »Aber die Gegend hier liegt doch unter dem Meeresspiegel?«, beharrt sie.
    »Die drohende Überflutung von 1993 hatte aber nichts mit dem Meer zu tun.« Es gelingt mir kaum noch, meine Gereiztheit zu verbergen. »Die ist durch den Schmelzwasserzufluss in den Alpen entstanden.«
    Halb zehn. Die Brotkörbe sind leer. In der Küche liegt noch ein Baguette.

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