Abscheu
trippelt sie zurück zu meiner Mutter und blickt fragend zu ihr auf.
»Daran ist sie nicht mehr gewöhnt«, sagt meine Mutter. »Ohne Leine rauszugehen. Sie ist in letzter Zeit sowieso kaum noch vor die Tür gekommen. Auf der Hundewiese sind immer öfter junge Männer mit diesen großen Hunden. Wirklich schöne Tiere, aber ich habe Angst vor ihnen. Und Bambi auch.«
»Komm«, sage ich in einer spontanen Anwandlung. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Was denn?«
»Komm einfach mit.«
Sie folgt mir, als ich an der Scheune vorbei weiter hinaus in den Garten gehe. Bambi läuft neben uns her. Der Kies knirscht unter unseren Füßen, als ich die Richtung der alten, knorrigen Weiden einschlage, die im Schutz einer Gruppe von Kastanienbäumen stehen.
Letzte Woche hat Harald das Häuschen abgesteckt: An den Ecken hat er viereckige kleine Pflöcke mit knallroten Enden in die Erde geschlagen und dazwischen eine Schnur gespannt, die die Grenzen des zukünftigen Gebäudes markiert.
Ich halte inne. Seltsamerweise werde ich nun ein wenig nervös. Wir haben uns sehr für dieses Projekt eingesetzt, Harald und ich. Schon seit über einem Jahr sind wir damit beschäftigt: den Bauplatz des Häuschens zu bestimmen, den Kredit zu beantragen, die Bauzeichnungen anzufertigen, die Zuständigen bei der Gemeinde zu bearbeiten und die Baugenehmigung zu erwirken. Mal angenommen, meine Mutter verkündet mir jetzt, dass sie gar nicht hierherziehen will? Dass sie lieber in Rotterdam wohnen möchte, wo sie sich auskennt und so viele Jahre ihres Lebens verbracht hat?
Bambi rennt zu einem Strauch, schnüffelt am Boden und knickt wieder in den Hinterläufen ab, um Pipi zu machen. Anschließend scharrt sie kräftig in der Erde und blickt uns fröhlich an. Unaufhörlich wedelt sie mit dem Schwanz. Endlich hat sie es begriffen: kein Katzenklo mit einer Lage Zeitungen mehr. Das hier ist eine große Hundewiese.
»Wollt ihr neu bauen?« Meine Mutter zeigt auf die Pflöcke und die Schnur.
»Ja. Ein kleines Haus. Harald nennt es ›Großmutters Häuschen‹.«
»Wie nett.«
»Es ist für dich.« Ich wage es nicht, sie anzusehen, und richte meinen Blick auf Bambi. »Wenn du möchtest.«
»Für mich? Wie meinst du das? Als Ferienhäuschen vielleicht?«
»Nein. Als Wohnhaus.«
»Ich? Soll ich etwa zu euch ziehen?«
Ich sehe sie an und nicke.
»Ist das dein Ernst?«
Ich nicke noch einmal und beobachte ihren Gesichtsausdruck ganz genau. Sie hat so viel Schlechtes erlebt, dass sie es nicht zu glauben wagt, wenn ihr etwas Gutes widerfährt. Sie wirkt so verdattert wie jemand, der von einem großen Lottogewinn erfährt.
Dann kommen ihr die Tränen. Und mir auch.
Erst gegen elf Uhr abends schreckt Harald aus dem Schlaf auf, entschuldigt sich und geht zu Bett.
»Ich gehe auch schlafen«, sage ich. »Morgen haben wir viel zu tun. Es würde mich nicht wundern, wenn Charlotte schon um sechs Uhr an unserem Bett steht und nach ihren Geschenken fragt.«
»Erwartest du viel Besuch?«, fragt meine Mutter.
»Ach, es geht. Sechs Kinder und vielleicht ein paar Angestellte von Ravelin. Die Nachbarn kommen bestimmt auch auf einen Sprung vorbei. Die versäumen keinen Geburtstag.« Ich stehe auf und räume einige benutzte Gläser vom Tisch.
Meine Mutter sammelt die Untersetzer ein. »Stimmt mit Harald etwas nicht?«
»Wieso?«
»Er ist so – mürrisch. Ein bisschen geistesabwesend. So kenne ich ihn gar nicht.«
»Ach so«, sage ich. »Keine Sorge. Er hat einfach viel zu tun.«
46
Gestern sind alle Freunde und Freundinnen von Charlotte bei uns gewesen, die sie zu ihrem sechsten Geburtstag eingeladen hatte. Sie wurden von ihrem Vater, ihrer Mutter oder gelegentlich der Oma begleitet, die alle auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen blieben. Gerda, die ich fast ausschließlich in der Schule treffe, ist auch auf einen Sprung vorbeigekommen, ebenso wie einige der Angestellten von Ravelin und die Nachbarn. Darüber war ich sehr froh, denn wenn man eine so kleine Familie hat wie wir, ist man auf andere angewiesen, wenn man sich geselligen Geburtstagsrummel wünscht.
Die Sonne stand hoch am blauen Himmel, und es war praktisch windstill. Die Luft war erfüllt von Blumendüften. Charlotte hätte sich keinen schöneren Tag aussuchen können.
Die Kinder haben sich wenig im Haus aufgehalten, und obwohl sie alle – trotz der damit verbundenen Risiken – »Reddys rote Kroketten« sehen wollten, ist es mir gelungen, die Wochenbettbesuche auf ein Minimum zu
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