Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
den Bibelfilmen, die ich früher an Karfreitag im Fernsehen gesehen hatte. Ich war eine dieser Figuren. Ich bin Hiob. Werfe verzweifelte Blicke zum Himmel empor. Rufe Gott an. Raufe mir meine Haare, denn Gott antwortet nicht. Der Himmel ist leer. Das wird mir in diesem Augenblick bewusst. Gott, dem ich mein ganzes Leben gewidmet habe, gibt es nicht.
Hiobs Verzweiflungsschreie noch in den Ohren, fand ich mich am Rand der Tanzfläche wieder. Ich bemerkte, dass ich den Bierdeckel wie einen Glücksbringer an meine Brust drückte. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Etwas geschah mit mir. Plötzlich fühlte sich meine Sehnsucht nach Liebe schal an. Wie ein blasses Echo aus vergangenen Zeiten. Das schwache Licht eines erloschenen Sterns. Ich wich erstaunt, ja erschrocken zurück, sagte mir: Werd‘ die Große Liebe schon finden! Aber da konnte ich reden, was ich wollte, es ließ sich nicht leugnen: Die Worte hatten einen hohlen Klang.
Ausgehend von meinen Fingerspitzen, die den Bierdeckel berührten, sickerte ein neues Lebensgefühl in meinen Körper und meinen Geist hinein. Plötzlich wurde mir bewusst, dass Lili mir etwas Außerordentliches geschenkt hatte. Einen anderen Blick auf die Dinge. Warum auf die Eine hoffen, die mir alles sein würde? Warum Monotheismus in der Liebe? Die Einheit liegt in der Vielfalt, nicht umgekehrt. Beinahe hätte ich es verdorben durch mein Verhaftetsein in alten Strukturen. Ein Greis war ich gewesen. Aber jetzt stand ich wieder im Saft. Jawohl! Monogamie adé. Mit meiner letzten Beziehung war für mich alle Metaphysik der Liebe gestorben, und aus der Asche meiner Sehnsucht nach dem Himmel der Monogamie erstand nun das Fleisch.
Meine Sehnsucht nach Lilis und vor allem Carmens Haut wandelte sich in eine universalere Sehnsucht nach Haut an sich. So aufwühlend die Erfahrung mit Lili(th) gewesen war, so befreiend war es nun für mich, hinter der an sie gebundenen Empirie die zugrunde liegende Struktur zu entdecken. Diese Wandlung vollzog sich mit der kühlen Eleganz einer formallogischen Operation: eine konkrete Aussage wird ihres Inhalts entkleidet und auf ihre logische Grundstruktur hin ausgefaltet. Aus konkreter Haut wird die Haut von xy. Nicht, dass ich das Gefühl hatte, nun an x-beliebiger Haut interessiert zu sein, aber gleichwohl reduzierte der Gedanke, dass die Epiphanie des Fleisches nicht an Lili(th) gebunden war, den metaphysischen Rest meiner Sehnsucht ungemein. Meine Sehnsucht hat nichts mehr mit einer unterschwelligen Sehnsucht nach Liebe zu tun gehabt. Ganz irdische Gelüste und Bedürfnisse haben mich gepackt, wie ich nun – den Bierdeckel in Händen – verstand. Und das war gut so. Wenn man im Himmel nicht gewollt wird, so sollte man sich – wenn einem an einem gewissen Seelenfrieden gelegen ist – nicht den Hals verrenken, um doch noch einen Blick auf die Tafel der Götter zu werfen. Bruder! Bleibe der Erde treu! heißt es Metaphysik kritisch im Zarathustra. Und ja: endlich befreit von den Zwängen aller Metaphysik der Liebe würde ich mich nun in den dionysischen Taumel der Sinnenlust stürzen.
» Oh Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere.« Ja, Lili hat mir ein neues Lied beigebracht. Die wärmende Phantasie einer Zukunft voller spannender Möglichkeiten verdrängte Stück für Stück die Kälte meiner Niedergeschlagenheit. Diese Nacht neigte sich zwar ihrem Ende zu, aber noch war nicht aller Abend Ende. Ja, so ist das halt, wenn keine Liebe im Spiel ist! Den Bierdeckel in der Hand murmelte ich das Credo der Promiskuität vor mich hin: Nach der Frau ist vor der Frau!
Dieser Lebensstil würde zwar – wie ich dort am Rande der Tanzfläche angesichts der Unerfülltheit meines Wunsches nach Zärtlichkeit zu spüren bekommen hatte – auch so seine Probleme mit sich bringen, aber wer hatte behauptet, dass das Leben ein Zuckerschlecken sei. Nein, ich würde meinen Stein rollen, Camus sollte stolz auf mich sein. Und also trank ich mein Bier in einem Zuge aus und ging durch den feinsten Wuppertaler Regen heim.
Sechstes Kapitel
Das Ende vom Lied
1.
Es gibt Zeiten im Leben eines Mannes, da gilt es die Zähne um den Zigarettenstummel im Mund zusammenzubeißen und – wie es mein Opa ausdrücken würde – die Arschbacken zusammenzukneifen. Keine wollte mit mir taumeln. Dabei ließ ich die Tage nach der erhellenden Nacht mit Lili nichts unversucht. An den Abenden, an denen ich arbeitete, spähte ich auf
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