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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Er hätte aufstehen sollen, dachte sie, nicht ich. Von Gewissensbissen, dem Pflichtbewusstsein einer Mutter oder einer Tochter getrieben, war es ihr unmöglich, liegen zu bleiben, während andere arbeiteten und sich um die Kinder kümmerten. Doch warum hatte sie dann, während sie nackt und müde dastand und der muffige Dampf ihre Poren öffnete, ein so schlechtes Gewissen?
     
     
* 3
     
    Es gab nichts zu tun. Sie konnten weder Fahrrad fahren noch mit Rufus spazieren gehen, also war es nicht möglich, an seinem Haus vorbeizugehen, wenn es überhaupt seins war. Ella heuchelte Sarah zuliebe Enttäuschung, und sie war auch enttäuscht, wenigstens ein bisschen. Wenn sie seine Nähe suchten, taten sie das zusammen, und Sarah war wild auf ihre Ratschläge, auf ihre Meinung. Ella war es nicht gewohnt, einbezogen zu werden, und sie hatte das Gefühl, zu dieser Liebesgeschichte zu gehören wie die dämliche beste Freundin in einem Film. Vielleicht konnte er Sarahs Herz erobern, aber nur mit Ellas Hilfe, weshalb sie mit Sarah immer etwas Tiefergehendes gemeinsam haben würde.
      Ihre Mutter wollte, dass sie sich anzogen und frühstückten, als hätte sie es eilig, irgendwo hinzufahren. Unten machten die Erwachsenen (Sarah nannte sie «die Wachsfiguren») gerade Pläne.
      «Euer Vater hat großzügigerweise angeboten, euch ins Kino zu fahren», drohte ihre Mutter.
      Na toll, hätte sie fast gesagt, beherrschte sich aber. Im Urlaub War ihre Mutter immer völlig durchgeknallt. Von dem Tag, an dem sie anfingen zu packen, bis zu dem Moment, wo sie die ganze Wäsche gewaschen hatte, war sie total wahnsinnig. Am besten verhielt man sich still und ging ihr aus dem Weg, eins der wenigen Talente, auf die Ella stolz war.
      Als ihre Mutter die Tür am Fuß der Treppe geschlossen hatte, stand Tante Margaret auf und trottete ins Bad, ihr Haar wirr und zerzaust, die Augen noch nicht richtig offen. Sarah schüttelte verlegen den Kopf, aber Ella betrachtete ihre Tante sorgsam, als könnte sie ausrutschen und ihr Geheimnis enthüllen - ein aufblitzendes Tattoo, eine verborgene Narbe. Sarah sagte, wenn ihre Mutter betrunken wäre, käme sie nachts manchmal in Sarahs Zimmer, legte sich auf ihr Bett und weinte. Dann würde sie Lügen über Onkel Jeff erzählen. Jetzt machte sie den Eindruck, als könnte sie betrunken sein oder wäre es gestern Abend gewesen. Es war schon fast zehn, zum Aufwachen ziemlich spät. Tante Margaret schloss die Tür, und Sarah stöhnte.
      «Sie ist so ... uäh!»
      Ella ließ ihr Zeit, doch Sarah senkte das Kinn in ihr Kissen, schob die Unterlippe vor und überlegte, und Ella dachte an ihre eigene Mutter und ihre Auseinandersetzungen übers Fernsehen, übers Geschirr oder weil sie zu Sam nett sein sollte. Verglichen mit Sarahs Eltern kam ihr das kindisch vor, waren das gar keine Probleme.
      «Warum können wir nicht einfach hier bleiben?», fragte Sarah. Ella war sofort gegen die Idee ihres Vaters, obwohl ihr mindestens zwei Filme einfielen, die sie gern sehen würde. Später würde es vielleicht noch schön werden, und ins Kino konnten sie auch zu Hause gehen.
      «Das ärgert mich. Sie fragen nicht mal, ob du auf etwas Lust hast.»
      «Ich weiß», sagte Sarah. «Und dann werden sie wütend, weil sie glauben, sie tun dir einen Gefallen.» Sie legte sich auf den Rücken, streckte die Arme in die Luft wie eine Mumie, in Richtung Zimmerdecke, ließ sie dann wieder sinken. «Was meinst du, was er jetzt wohl gerade macht?»
      Ella hatte keine Ahnung, was Jungs an so einem miesen Tag morgens um zehn machten. Fernsehen? Computerspiele spielen? Bei ihm konnte sie sich keins von beidem vorstellen, sondern bloß essen, trainieren, seine Muskelpakete spazieren führen.
      «Was glaubst du, wie er heißt?», fragte Sarah und quälte sich, weil es ihr Spaß machte.
      Dave, dachte Ella, oder Dan. Irgendwas Blödes.
      Im Bad sprang die Dusche an, das Wasser prasselte gegen die Glaskabine. Ella freute sich insgeheim. Das bedeutete, dass sie warten mussten, bis Sarahs Mutter fertig war. Es bedeutete, dass sie noch eine Viertelstunde mit Sarah allein war. An einem Tag wie diesem würde sie jede Sekunde genießen, die sie mit ihr verbringen konnte.
     
     
* 4
     
    Emily erwartete, dass die Entführung Arlene nahe ging, als wären sie mit der Frau verwandt. Derart überrascht - in ihrem Zimmer mit einer Wolldecke über dem Schoß, in ihr Buch vertieft -, konnte Arlene nur verdutzt mit den Schultern

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