Abschied von Chautauqua
zucken. Sie dachte, es würde ausreichen, kein Interesse zu zeigen, doch Emily blieb in der Tür stehen. Bis jetzt hatte Arlene sich nicht klar gemacht, wie sehr sie die Stille des Zimmers genoss, das schwache Licht, das, vom Rasen zurückgeworfen, durchs Fenster fiel, den Wind, der die Bäume wiegte. Sie konnte den ganzen Tag lang zufrieden hier sitzen, vor dem Mittagessen Teewasser aufsetzen und auf den Pfeifton lauschen. Sie hatte sich richtig ans Alleinsein gewöhnt.
«Man muss sich fragen, ob ihr Freund in die Sache verwickelt ist» spekulierte Emily, «oder irgendein Exfreund. So etwas passiert doch nicht zufällig.»
Arlene wollte sich nicht in ein Gespräch hineinziehen lassen und entschied sich für ihre einzige Fluchtmöglichkeit, ein unverbindliches «Wir werden es bestimmt herausfinden».
«Meinst du?»
«Irgendwann», sagte Arlene, ohne von ihrem Buch aufzublicken.
«Ich bin mir da nicht so sicher. Viele dieser Vermisstenfälle bleiben ungelöst, besonders bei jungen Leuten. Natürlich weiß niemand, wie viele davon Ausreißer sind. Ich wäre sehr überrascht, wenn wir bis zum Ende der Woche irgendetwas erfahren.»
«Ich hab gesagt, irgendwann», erwiderte Arlene. «Wenn sie das FBI einschalten, haben sie wahrscheinlich irgendwelche Anhaltspunkte. Sie würden das FBI nur einschalten, wenn es eindeutig ein Fall für die Bundespolizei ist. Viele der Vermissten, von denen du sprichst, sind Kinder, die in Sorgerechtsstreitigkeiten verwickelt sind. Hier handelt es sich aber um eine erwachsene Frau, wenn das stimmt, was du mir gesagt hast.»
«Deshalb tippe ich ja auf ihren Freund.»
«Und die Bundespolizei ...?» Sie konnte in ihrem Tonfall die Lehrerin hören, die einem verwirrten Schüler eine logische Antwort entlocken wollte und Fakten verlangte, die seine These stützten. Aus Erfahrung wusste sie, welche Kriterien in Frage kamen.
«Drogen», sagte Emily.
«Das klingt nach einer wilden Vermutung.» Die aber wahrscheinlich stimmte.
«Fällt dir etwas Besseres ein?»
«Nein», gestand Arlene. «Ich brauch mir auch nichts einfallen zu lassen, oder?»
«Ich dachte bloß, es könnte dich interessieren. Tut mir Leid, dass ich dich belästigt habe.»
«Du hast mich nicht belästigt, und ich finde die Sache auch interessant. Ich versuche bloß, mein Buch zu lesen, das ist alles.»
«Hast du deine Liste schon?»
Sie begriff nicht, der Themenwechsel war zu abrupt.
«Mit den Sachen, die du haben willst», sagte Emily.
«Ich kriege doch schon den Fernseher.»
«Der zählt nicht.»
«Ich hab eigentlich nicht drüber nachgedacht.»
«Dann tu's bitte. Ich brauche die Listen so bald wie möglich. Ich hatte gehofft, wir könnten sie heute Abend durchgehen.»
Arlene erklärte sich bereit, ihre am Nachmittag fertig zu stellen. Nein, sie wolle die Tür nicht geschlossen haben, aber Emily ließ sie nur einen Spaltbreit offen.
Seufzend widmete sich Arlene wieder ihrem Buch und schlug die Beine unter der Wolldecke übereinander. Sie las einen Satz, dann ließ das graue Licht von draußen sie aufblicken. Die Bäume standen jetzt ruhig da, im Gras lagen ein paar Blätter, die ihre blassen Bäuche zeigten.
Ein Kriterium waren Drogen und ein weiteres Verschleppung in einen anderen Staat, also wenn man jemanden gegen seinen Willen über die Staatsgrenze brachte. Sie sah vor sich, wie Eugene Ingram auf seinem Platz saß, sah dann seine furchtbare Handschrift, nur sein Name leicht lesbar. Als er verschwand, war sie im Lehrerzimmer von zwei FBI-Agenten verhört worden. Arlene hatte ihnen alles gesagt, was sie wusste. Eugene sei oft nicht zum Unterricht erschienen und habe manchmal die Hausaufgaben nicht abgegeben. Am Anfang des Jahres sei seine Tante zum Elternsprechtag gekommen und sei so weit ganz nett gewesen (in Wirklichkeit hatte sie sich gelangweilt, aber so ging es den meisten Eltern, sie taten nur ihre Pflicht), doch seitdem habe Arlene nicht mehr mit ihr gesprochen. Das FBI hatte nicht gesagt, dass die Tante und der Onkel ebenfalls vermisst wurden. Das musste Arlene später der Zeitung entnehmen.
Doch schließlich hatten alle in der Schule erfahren, was mit Eugene Ingram passiert war. Sein Onkel hatte mit Drogen gehandelt, und ein paar Mitglieder einer örtlichen Bande hatten beschlossen, ihn auszurauben. Sie hatten Eugene zusammen mit seiner Tante und seinem Onkel entführt und in einem leer stehenden
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