Abschied Von Freistatt
was sie tun, lediglich, daß sie sich den falschen Ort dafür ausgesucht haben. Und ich habe kein Unrecht getan, indem ich sie zwinge, sich einen geeigneteren Ort dafür zu suchen.«
»Was für einen geeigneteren Ort? Wohin können sie gehen? Wo finden sie, was sie brauchen, ohne daß Beschwerden über sie eingehen? Zum Beinhaus? Zum Abwind. Glaubt Ihr, daß diese Frauen und Kinder auch nur drei Tage im Abwind überleben würden?«
Wedemir fand, daß die Antworten auf seine Fragen offensichtlich waren, und wunderte sich, daß Walegrin sich am Ohr kratzte und sich ernstlich damit befaßte.
»Nun. Sie müssen es auf der Abwindseite tun, wenn nicht die ganze Stadt verpestet werden soll. Sie brauchen sauberes Wasser, aber wenn sie damit fertig sind, wird es nicht mehr sauber sein, folgedessen brauchen sie einen Bach, der direkt zu einem Fluß führt. Das bedeutet, daß sie es außerhalb der Stadtmauer tun müssen, in einem Landhaus. Sie haben kein Geld, und diese Theudebourga würde nie irgendeinen Vertrag unterzeichnen. Ein Patron. Sie müßten jemand mit einem Landhaus finden, der bereit wäre, sich für eine Gewinnbeteiligung an der fertigen Seide mit dem Gestank abzufinden.«
»Welches Landhaus würdet Ihr vorschlagen: den Adlerhorst? Oder Jubals ehemaliges, nun, da die Stiefsöhne ausgezogen sind? Oder wie wär's mit Landende bei Chenaya und ihren Gladiatoren?« fragte Wedemir gedehnt.
Seit Generationen galten diese drei Landhäuser als die äußerste Grenze von Freistatt und der Beginn der Wildnis. Jetzt erfüllten sie alle wieder einen Zweck, jedes auf andere Art, aber an ihrer Bedeutung hatte sich nichts geändert. Zumindest nicht für Wedemir. So, wie er es sah, würden die Frauen in keinem eine Chance kriegen; und er wußte nicht, was es zwischen Walegrin und Chenaya gegeben hatte. Als der Kommandant knurrte, daß die Frauen dann in der Hölle besser aufgehoben wären, verstand der Leutnant nur, daß er ein gefährliches Thema angeschnitten hatte.
»Ich habe meinen Eltern versprochen, daß ich sie besuchen würde, wenn ich in der Nähe zu tun habe.« Das war keine direkte Lüge. Gilla freute sich immer, ihren Ältesten zu sehen; und er hatte ein plötzliches Bedürfnis nach seiner Familie.
Walegrin verstand. »Ich mache weiter. Ihr braucht nicht nachzukommen. Ich glaube, für einen Nachmittag habt Ihr genug gelernt.«
Wedemir verspürte einen Schmerz im Bauch, als hätte er eines von Gillas bitteren Abführmittel getrunken. Einen Moment lang fühlte er sich kalt und allein, dann folgte er vertrauten Straßen zu der gerade noch achtbaren Gegend, in der seine Familie schon immer wohnte. Er grübelte über den Grund für die Feindseligkeit des Kommandanten nach. Er war ein intelligenter junger Mann mit lebhafter Phantasie.
Die Wahrheit konnte er unmöglich erraten, doch das hieß nicht, daß er keine befriedigende Erklärung fand: Jedes Landhaus, das er erwähnt hatte, verkörperte die Vergangenheit oder das Rankanische Reich. Die Frauen brauchten eine andere Art von Patron. Bis Gilla seine Schritte auf der Treppe hörte, hatte Wedemir seinen Plan ausgearbeitet.
Walegrin dagegen hatte keinen Plan. Er überprüfte die Lagerhäuser und bemühte sich, nicht an das Problem mit der Seidengewinnung zu denken. Er hatte sich eingeredet, daß es nicht seine Sache war. Er verspürte eine seltsame Leere im Magen - aber das mochte ausschließlich vom Hunger herrühren, und dafür wußte er Abhilfe.
Es war Sechsttag - das war leichter zu merken, als daß es auch Eshistag, Geisttag, Sabelliastag oder sonst irgend jemandes Tag war -, und am Sechsttag war Walegrin immer bei Illyra und ihrer Familie zum Essen eingeladen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich dort gar nicht willkommen gefühlt. Dann plötzlich, im vergangenen Herbst, hatte Dubro scheinbar ohne Grund erklärt, daß sich seine Frau freuen würde, am Wochenende den Tisch für ihren Bruder mitzudecken.
Ihr Zuhause war im Lauf der Jahre beachtlich gewachsen: eine Wand hier, ein Dach da, ein zweiter Amboß und, vor kurzem erst, eine umgebaute und erweiterte Schmiede mit einer Abteilung für Dubro sowie einer für seinen Gesellen. Illyras Stube mit quastenverzierten Vorhängen schloß daran an wie ein nachträglicher Einfall.
Illyra war glücklich, sagte sich Walegrin, als er sah, daß die Vorhänge zurückgebunden waren. Glücklicher als in dem fensterlosen Raum, wo sie für jeden die Karten gelegt hatte, der zu ihr gekommen war. Hatte sie nicht immer
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