Absturz
waren wieder viele, viele Nachhilfestunden nötig, bis du das Geld zusammengehabt hast, um wenigstens die Rechnung des Abschleppdiensts bezahlen zu können. Mireille hat eine Fotografie gemacht, wie du an der seitlichen Rampe des Abschleppwagens sitzt, dein Wrack hinter dir. Du lächelst traurig. Unter das Bild hast du geschrieben: »Oh du lieber Augustin, alles ist hin.« Und darüber: »Ein großer Österreicher.«
Kurzum, alter Herr, du meinst, ich bin ein Versager.
Ich meine gar nichts, junger Mann. Aber fest steht: Vor den Werken hast du Wracks geschaffen. Ob noch etwas aus dir werden wird? Gute Frage, junger Mann! Ich werde aus dir werden.
Ob ich mit meinem heutigen Erfahrungsschatz ausgestattet etwas anders machen würde, stünde ich noch einmal am Anfang, stünde ich noch einmal an einer Weggabelung meines Lebens? In eine andere Stadt, in ein anderes Land ziehen? Andere Freundschaften schließen und pflegen? Mit anderen Frauen zusammen sein? Eine andere Frau heiraten? Gar nicht heiraten? Eine andere Familie? Gar keine? Gar keine Kinder? Mehr riskieren, als ich riskiert habe? Weniger riskieren? Andere Bücher? Gar keine? Andere Theaterstücke? Gar keine? Ganz etwas anderes? Andere Sprache? Gar keine? Was dann?
Man wird zu dem, der man ist, durch die Entscheidungen seines Lebens. Aber die Entscheidungen, die man scheinbar trifft, sind Fügungen, die einen treffen.
Stünde ich nochmals am Anfang, würde ich ganz ohne Zweifel vieles anders machen. Das heißt, es würde zwangsläufig vieles anders geschehen. Und das würde mich ändern, ohne dass ich es wüsste: Es würde mich anders ändern – in dem Fall würde ich mich so, wie ich jetzt bin, niemals kennengelernt haben, und es würde mich so, wie ich jetzt bin, nicht geben. Ich wäre ein anderer. Kein Fremder, aber ein anders Gebogener.
Ich bin aus einem entstanden, der kein anderer werden wollte. Ich will kein anderer werden.
Wenn ich nochmals zur Welt komme, lasse ich mir als Erstes die Zähne reparieren.
Parolen:
Niemals arbeiten!
Keinem dienen!
Sich nichts und niemandem unterwerfen!
Allen misstrauen. Allem misstrauen.
Keine Kritik akzeptieren, keine Ehrung, kein Urteil.
Niemals das Verbrechen begehen, Vater zu sein. (Das war natürlich geborgt.)
Niemals die Stadt verlassen. Die Welt in der Stadt machen. Die Stadt zur Weltstadt machen, und sei es auch eine Weltkleinstadt. Sein, wo man ist.
Ein freier Mensch werden.
Ein freier Mensch bleiben.
Der erste Meister werden, der vom Himmel gefallen ist.
2
N ach zwei Jahren ist Max mit seinem Roman fertig geworden. Er kopiert das Manuskript und verschickt es an alle Verlage im ganzen deutschsprachigen Raum, deren Adressen er ausfindig machen kann. Sämtliche Verlage schicken Max sein Manuskript mit ehrlichem Bedauern zurück, manche bereits nach einer Woche, manche nach fast einem Jahr, die meisten mit einem Formularbrief, manche mit einer persönlichen Stellungnahme, aber alle sagen ab.
Einen Ausschnitt des Romans reicht Max trotzdem bei einem Literaturwettbewerb ein, der von Ebenau, einer kleinen Randgemeinde, ausgeschrieben worden ist. Tatsächlich wird Max gemeinsam mit fünf anderen Bewerbern, darunter einem sehr bekannten alten Mundartdichter, zu den Finallesungen eingeladen. Die finden im Trauungssaal des Gemeindeamts statt, und es ist recht viel Publikum gekommen: hauptsächlich ältere Leute, aber auch etliche seiner Freunde, Erich, Otto, Jan Philipp. Seine Eltern hat Max gebeten, nicht zu kommen, denn sie spielen die Hauptrollen in dem eingereichten Text. Aber das verrät er ihnen nicht. So hundeelend wie vor dem Beginn des Wettlesens hat sich Max in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Die Nervenanspannung ist unerträglich. Er hat das Gefühl, die ganze Welt schaut auf ihn und er ist splitternackt. Die Reihenfolge der Lesungen wird ausgelost, und wenigstens kommt Max als Erster an die Reihe. Er würde es bald hinter sich haben. Aber dann das lange Warten. Nie wieder, nimmt er sich vor, würde er sich einer solchen Prozedur aussetzen. Schräg gegenüber des Lesetischchens sitzen drei Herren mit strengen Blicken, das ist die Jury.
Max setzt sich, trinkt einen Schluck Wasser und beginnt in rasantem Sprechtempo zu lesen, um seinen Auftritt so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
»Bald nach meiner Hochzeit«, hebt Max, der in Wirklichkeit nicht verheiratet ist, an, »haben meine Eltern ihre Stadtwohnung aufgegeben und sind ins Grüne gezogen. Der Vater sitzt vor dem
Weitere Kostenlose Bücher