Absturz
Wenigstens konnte man sich abends noch auf die Straße trauen! Hitler war ein Verbrecher, sagt der Vater, aber als er einmarschiert ist, haben die Menschen ihm begeistert zugejubelt, er war der Held vom Heldenplatz. Frauen sind vor Verzückung in Ohnmacht gefallen, als Adolf der Nazi sie im offenen Wagen aufrecht stehend mit dem deutschen Gruß passierte. Heute will niemand mehr etwas davon wissen, und niemand will dabei gewesen, alle wollen im Untergrund und im Widerstand tätig gewesen sein.
An dieser Stelle seines Sermons kommt der Vater üblicherweise auf die Judenfrage zu sprechen. Diesmal muss er sich seine Lieblingsstelle aber verkneifen, denn gerade kommt die Mutter mit dem Kirschkuchen. Der Sinn eines Kirschbaums im Garten ist ja nicht nur, dass er einen Kirschbaumschatten wirft, in dem der Vater sitzen und sich von seinem Leben ausruhen kann, sondern vor allem, dass er Kirschen wirft, aus denen die Mutter ihren berühmten Mürbteigkirschkuchen backen kann, der der beste der Welt ist, was man ihr auch immer wieder sagen muss, weil sie es gar nicht oft genug hören kann. Hingegen will sie kein Wort über diesen Hitler mehr hören, denn Adolf, der Nazi, war ein Verbrecher ohne Wenn und Aber, und wegen ihm ist die Stadt in Schutt und Asche gelegen, als sie, die Mutter, noch ein kleines Kind war. Nicht ein Wort will sie davon hören, sonst würde sie krawutisch ! Weil er vermeiden will, dass seine Frau krawutisch wird, sagt der Vater diesmal also lieber nicht, dass er persönlich gar nichts gegen Juden hat. Dass von Konzentrationslagern damals niemand irgendetwas gewusst hat. Dass die Juden einen Schwerverbrecher aber immerhin lieber begnadigt hätten als einen Religionsstifter. Dass die Juden Jesus Christus auf dem Gewissen und ans Kreuz genagelt hätten, obwohl Jesus selber ein Jude war; dass er also nichts gegen Juden hat, dass es aber einen Grund dafür geben muss, dass es noch kein Jahrhundert ohne Judenverfolgung gegeben hat. Und so weiter. Seit Jahren geht das so, und es wird sich nicht mehr ändern. Sein Lebensproblem bekommt man zu Lebzeiten so wenig weg wie seinen Körper …
Wieder zu Hause in unserer kleinen Wohnung, fragt mich Wanda, warum ich mir so etwas überhaupt anhöre, warum ich diskutiere, obwohl sich diese Diskussionen doch immer nur im Kreis drehen und jedes widerlegte Argument zehn Minuten später runderneuert wieder aufs Tapet kommt, warum mir nicht der Kragen platzt, warum ich nicht endgültig und für alle Zeiten mit meinem Vater breche? Was ist denn ein Kirschkuchen gegen den Holocaust und den Faschismus! Überhaupt ist Wanda völlig aus dem Häuschen: Gerade hat dieses Land Kurt, den Pflichterfüller, zu seinem Präsidenten gewählt. Ausgerechnet den! Gerade hat dieses unverschämte, sture Land die Warnungen seiner Künstler und Dichter in den Wind geschlagen! Dabei hatte doch einer der renommiertesten Dichter des Landes Kurt, den Kandidaten, in wildem Furor die Spottgeburt eines klein gewordenen Landes genannt, einen Wiedergänger aus Transsylvanien, einen Blick-, Gehör- und Gedächtnislosen, einen mechanischen Nicker, einen Lebensläufer als Hakenschläger, einen Strategen des Wegsehens, die Fleisch, Sehne und Knochen gewordene Sprachstarre, einen Amtsdiener im tristesten Sinn, einen gespensterhaften Wort-Leiermann, einen ewigen Lemuren, der weder zu Schönheitssinn noch zu Kulturdurst oder Väterlichkeit fähig ist, eine Paradefigur der Gewissensarmut. Aber das Volk aus Blick-, Gehör- und Gedächtnislosen dachte sich sein Teil, ließ den Dichter reden und wählte sich den Wiedergänger aus Transsylvanien zum Präsidenten. Wanda war frustriert, sang trotzig die Internationale , die Hymne der Sandinisten, flog nach Nicaragua, baute zusammen mit den ortsansässigen Sandinisten einen Kindergarten, kam zwei Monate später, finanziell bis aufs Hemd abgebrannt und von Flöhen zerbissen, zurück, schaltete erschöpft den Fernseher ein und sah als Erstes, wie ihr Kindergarten von den Contras niedergebombt wurde.«
Applaus. Max verbeugt sich, verlässt das Podium und setzt sich mit dem zusammengerollten Manuskript in die letzte Reihe. Das lange Warten geht los. Jetzt folgen die anderen fünf Finalisten. Als Letzter liest der bekannte alte Mundartdichter heitere, gereimte Gedichte und bekommt den größten und längsten Applaus. Dann zieht sich die Jury zur Beratung zurück. Eine halbe Stunde später verkündet ihr Sprecher, der Literaturchef des Regionalradios, die
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