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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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spielentscheidende Treffer »aus dem Nichts heraus«, wie die Sportreporter sagen. Ein glücklicher Sieg, aber nicht unverdient! Du hast es geschafft! Die Dinge einfach geschehen lassen, an nichts denken: Das ist das Erfolgsrezept. Nichts denken: Schon funktioniert man wie alle anderen. Jetzt hast du das geschafft, von dem du gedacht hast, du würdest es nie schaffen: Das, was alle schaffen. Das, wo gar nichts dabei ist. Der niedrigste Höhepunkt des Lebens: Der horizontale Höhepunkt. Jetzt kannst du gleich ganz gewöhnlich werden. Du hast es geschafft: Der ideale Anlass, jetzt mit dem Schreiben aufzuhören! Der ideale Anlass, aus deiner Traumwelt (© by Papa) zu erwachen und normal zu werden.
    Du bist jetzt Mitglied im größten Club der Menschheit! Triumph des Banalen! Das muss gefeiert werden. Schnell hinunter, in der Uni-Bar brennt noch Licht, und an der Theke lehnen noch ein paar Leutchen, die rauchen und trinken und singen  West Virginia  und  Ring of Fire ,  Me and Bobby McGee  und  Moon of Alabama . Du stellst dich dazu und bestellst ein Bier und sagst: »Leute, wisst ihr schon das Neueste: Ich bin normal! Ich bin völlig normal! Heureka! Ich bin ein Normalverbraucher!« Ein Prosit, ein Prosit. Deine Worte sind bei dem Lärm freilich nur schwer zu verstehen. Dein linker Thekennachbar grölt dir ins Ohr: Freedom is just another word for nothing left to lose! Immer das Gleiche! Und von rechts kommt die Botschaft: I tell you, I tell you, I tell you we must die!
    Um zwei Uhr morgens verlöschen die Lichter der Uni-Bar, Johnny Cash und Janis Joplin gehen schlafen, und dich packt eine gewaltige Sehnsucht nach dem Süden, betrunken, wie du bist. Diese Sehnsucht muss nicht Sehnsucht bleiben. Mireille schläft. Aber du besitzt einen gelben Kadett mit hervorragender Benzinpumpe und halb vollem Tank. Die Stadtväter haben die Universität nicht zufällig direkt neben die Autobahnauffahrt gebaut. Was schert dich die Heidelberger Liederhandschrift! Was schert dich die Frankfurter Schule! Keine sechzig Kilometer von hier beginnt das Land, wo die Zitronen blühen und Mandolinen spielen und Päpste winken und üppige Schönheiten nächtens glucksend in Brunnen planschen! Alles schläft, einsam fährt ein gelber Kadett, und im Autoradio trällert Gianna Nannini ihren brandneuen Hit  Fotoromanza . Fahren, fahren, vielleicht auch träumen! Fahren, fahren, niemals stehen bleiben, niemals dieses Gefühl verlieren, das dir fast die Brust zerreißt, immer weiter fahren.
    Tatsächlich misst dein nächtlicher Weg in den Süden aber nur drei Kilometer. Gianna Nannini ist gerade bei der Textstelle »Ti telefono o no, ti telefono o no, ho il morale in cantina« und du grölst mit, wodurch die zwischen die Lippen geklemmte Zigarette aus deinem Mund purzelt, deinen Oberkörper entlang abwärts kollert, unter dem Griff der Handbremse durchrollt und schließlich unter dem Beifahrersitz verschwindet. Verantwortungsvoll wie du bist, blickst du zunächst prüfend geradeaus, und erst nachdem du dich vergewissert hast, dass weit und breit kein Gegenverkehr in Sicht ist (erst später kommt dir zu Bewusstsein, dass das auf Autobahnen immer der Fall ist), beugst du dich zur Seite, tauchst in die Tiefe, versuchst, mit der rechten Hand unter den Beifahrersitz zu kommen und die brennende Zigarette zu bergen, wodurch du die Sicht auf die Fahrbahn einbüßt und dein Lenken sozusagen fiktiv und fantasiegeleitet wird. Sehen konntest du also nicht nur infolge der Finsternis weder die von Otto mitgebaute Brücke noch die Kurve. Aber gespürt hast du natürlich, wie dein gelber Kadett die Leitplanke touchiert hat, wodurch er sich wie ein Karussell zu drehen begonnen hat, ins Schlittern geraten und im nächsten Augenblick gegen die Leitplanke am anderen Fahrbahnrand gekracht ist. Ein heftiger Aufprall war das! Und da war jetzt auch die Zigarette wieder. Der Aufprall hatte sie zurückrollen lassen. Immerhin! Quest amore!, jubelte Gianna Nannini, als sei nichts geschehen. Ja, Künstler müssen zusammenhalten! Dabei grenzte es an ein Wunder, wie der Gendarm später meinte, dass du dich bei dem Aufprall nicht überschlagen hast oder gar über das Brückengeländer in die Tiefe gestürzt bist. Der gute gelbe Kadett freilich war von einem Augenblick auf den anderen nur noch Schrott. So wie du Bruchpilot nicht und nicht in die Hauptstadt gekommen bist, hast du es auch nicht in den Süden geschafft. Jan Philipp Möller ist nicht nach Italien gelangt.
    Es

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