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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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nicht. Er wird die Welt nicht ändern. Und sein Sohn auch nicht.  Einen alten Baum pflanzt man nicht mehr um.
    Und dann hat der Vater noch eine ganz große Lebensweisheit auf Lager:  Kunst kommt von Können.  Goethe konnte was. Wilhelm Busch konnte was. Eichendorff konnte was – und Eichthal konnte auch noch was. Deswegen kommen Goethe, Busch, Eichendorff regelmäßig im Kreuzworträtsel vor. Nach seinem Sohn ist im Kreuzworträtsel noch nie gefragt worden. Vieles von dem, was heute in den Zeitungen und im Fernsehen von der Kunstmafia als Kunst gefeiert würde, wäre früher, zu seiner Zeit, als entartete Kunst bezeichnet worden, sagt der Vater. Wie oft habe ich ihm gesagt, er solle sich doch mit so schrecklichen Ausdrücken wie ›entartete Kunst‹ zurückhalten. Immer hat er mir geantwortet, von einem, der so jung sei wie ich, keine Ahnung von den  Umständen  und der  damaligen Zeit  und außerdem  selbst noch nichts bewiesen  habe, werde er sich  nicht den Mund verbieten  lassen.
    Tatsächlich hat damals, als der Vater so jung war wie der Sohn heute, dieser Herr Hitler ein Tausendjähriges Reich ausgerufen, das neunhundertdreiundneunzig Jahre vor dem Tausendjahrjubiläum wieder zusammengebrochen ist, und für den Vater und für Millionen anderer Verblendeter und Verbiesterter ist damals mit dem siebenjährigen Tausendjährigen Reich eine Welt zusammengebrochen. Millionen können den Zusammenbruch ihrer Welt bis heute weder verstehen noch erklären, und sie nehmen ihre Verständnisschwierigkeiten mit in den Tod. Sie können und wollen nicht wahrhaben, dass ihre Welt eine verbrecherische, massenmörderische Welt gewesen ist, errichtet auf den Leichenhaufen von Millionen und Abermillionen unschuldig Gequälter und Getöteter. Aber es hilft nichts: Noch sind die Verblendeten und Verbiesterten die eisern schweigende Mehrheit im Land, die Verblendeten und Verbiesterten halten zusammen wie Pech und Schwefel, und erst durch ihren Tod werden sie von ihrer Lebenslüge befreit werden. Erst wenn die Mehrheit gestorben ist, wird das Land Großputz machen können. Aber der Großputz wird nur den Altschmutz betreffen, der Neuschmutz hat dagegen lebenslänglich Galgenfrist.
    Was für ein arrogantes Geschwätz eines Dreikäsehochs!, sagt der Vater. Aber das sei eben ein Indiz für die Geschichtsfälschung, die heute systematisch betrieben würde. Vae victis!, sagt er. Er, der Vater, sei niemals Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen, obwohl man ihm diese Mitgliedschaft mehrmals nahegelegt hatte. Er habe sich bis zum Schluss vor allen Fronteinsätzen drücken können, er habe kein Menschenleben auf dem Gewissen. Immer wenn es brenzlig wurde, kamen ihm rechtzeitig seine Zahnschmerzen dazwischen und zu Hilfe. Die ärgsten Kriegsgetümmel erlebte der Vater in der Zahnarztpraxis oder kreuzworträtsellösend im Wartezimmer. Während seine Kameraden im Schützengraben für Führer, Volk und Vaterland ihr Leben ließen, ließ er sich Betäubungsmittel in den Gaumen spritzen. Während seine Kameraden ins Feld zogen, zog ihm der Zahnarzt einen Schneidezahn. Zahnschmerzen können also doch ganz praktisch sein! Am Ende waren fast keine Kameraden und fast keine Zähne mehr vorhanden, sodass einerseits Soldatenfriedhöfe, andererseits ein künstliches Gebiss notwendig wurden. Die erste Phase des Wiederaufbaus war der Wiederaufbau von Vaters Beißwerkzeugen. Nach dem dritten Reich die dritten Zähne.
    Hitler war zweifelsohne ein Verbrecher, sagt der Vater im Kirschbaumschatten und rührt den Kaffee um, aber die anderen waren um keinen Deut besser. Stalin etwa, der Massenmörder und Tyrann! Millionen hat der auf dem Gewissen. Darüber rede niemand. So würde konsequent Geschichtsfälschung betrieben. Zu seiner Zeit seien die Geschichtsbücher noch nicht so manipulativ wie heute gewesen. Die Geschichtsschreibung ist eine große Enttäuschung. Hitler war ein Verbrecher, sagt der Vater, aber er ist demokratisch an die Macht gekommen, und wenigstens hat er den Menschen Arbeit gegeben! Den Einwand, der Wirtschaftsaufschwung habe nur durch Aufrüstung und Kriegsindustrie funktioniert, bagatellisiert der Vater: Man wird ja wohl noch rüsten dürfen! Wer rastet, der rostet; nur wer rüstet, rostet nicht, mein Lieber, lieber rüstig als rostig! Adolf, der Nazi, hat dem deutschen Volk sein Selbstbewusstsein zurückgegeben. Recht und Anstand haben wenigstens noch etwas gezählt, Heimatliebe, Kameradschaft, Ehre und Pflicht.

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