Absturz
Offenbar muss der städtische Entrümpelungslastwagen in aller Herrgottsfrüh gekommen sein, und die Müllmänner müssen die Tonnen von Unrat beseitigt und abtransportiert haben, ohne dass ich auch nur das Geringste davon mitbekommen habe (in der Früh schlafe ich, wie es heißt, wie ein Toter). Da ich, obwohl ich knapp vierzig Jahre und also mein ganzes Leben lang ununterbrochen in dieser Stadt lebe, nicht weiß, wo ihre Mülldeponien liegen, weiß ich auch nichts über den letzten Aufenthaltsort von Frau Oberluggauers zusammengekrachter und zusammengekehrter Wohnung oder was davon in welcher Weise vielleicht doch recyclet wird und wenn auch durch die Metamorphose unerkennbar geworden doch noch weiterexistiert. Jedenfalls existiert im Hinterhof jetzt über Nacht nicht mehr das geringste Anzeichen der Vergangenheit, nur noch der moosgrüne Wagen ohne Nummerntafel. In der nun kahlen Wohnung selbst oben im vierten Stock sind alle Fenster sperrangelweit aufgerissen, auf dem Holzgeländer des Balkons hocken Tauben und lassen ihre Exkremente fallen. Das ist alles.
Wozu ich die Unmengen Gerümpels so detailliert notiert habe und wofür ich Frau Oberluggauers Reste verwenden werde, kann ich jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen. Aber mein ganzes Leben besteht, wenn ich nicht gerade schreibe, aus Materialsammlung, Sichtung, Ordnung, Brandmarkung der Welt durch Benennung und Beschriftung. Ich werde Frau Oberluggauers letzten Haufen in Evidenz halten, und wenn ich eines Tages einen Roman schreibe, in dem eine alte Frau stirbt und deren Wohnung vier Monate nach ihrem Begräbnis aufgelöst wird und zu einem Berg von Müll und Mist zerbirst, dann werde ich mich nicht in allgemeine Formulierungen flüchten müssen, sondern auf meine Materialien zurückgreifen und plastisch und anschaulich schreiben können: Sperrholz, ruinierte Kommoden, modrige Matratzen, ein offenbar handgearbeiteter Vogelkäfig aus Holz à la Schikaneder, ein elektrifizierbarer Christbaum, etwa einen Meter lang, verbogen und zweimal gekrümmt, der Buchdeckel einer alten Faust-Ausgabe …
In Evidenz halten! Entsorgen! Was wo speichern? Was wo aufbewahren? Eigene Dateien? Arbeitsplatz? Aktenkoffer? Papierkorb? Ich habe jetzt also meine eigene Deponie, meinen PC angeworfen (das Passwort, um ins Programm einzusteigen, heißt emma; nur hat Emma die längste Zeit nichts davon gewusst. Erst vor ein paar Wochen bin ich nicht umhingekommen, es ihr zu verraten: Emma war gerührt, jedenfalls hat sie so getan. Ich muss allerdings zugeben, dass dieses Passwort gar nicht ich selbst, sondern der Techniker gewählt hat, als er mir das Programm installiert hat). Ich starre ins Dateienverzeichnis am Monitor und überlege hin und her, wo ich Frau Oberluggauers finalen Haufen unterbringen, verwahren, zwischenlagern und entsorgen könnte.
Die Datei, die ich gerade eben beschreibe, habe ich übrigens Kopfzerbrechen genannt: Das ist so ein Spielchen von mir und wieder meine Art von Leichenfledderei. Bald nach dem Tod von Thomas Bernhard habe ich gelesen (ich weiß nicht mehr wo; vielleicht war es auch eines der zahlreichen Filmporträts in memoriam), dass Bernhard, der Mann, der die alten Frauen liebte, gegen Lebensende hin als Letztes noch ein Buch über die Beziehung zu seiner letzten Gefährtin geplant hat und es Kopfzerbrechen. Eine Romanze nennen wollte. »Die Perlen hab ich schon«, soll er gesagt haben, »ich brauche nur noch die Schnur, sie aufzufädeln.« Bernhard hat die Schnur aber nicht mehr gefunden und das Buch nicht mehr geschrieben, der Tod ist ihm zuvorgekommen. Wie Bücher sind natürlich auch Buchtitel urheberrechtlich geschützt. Kein Autor darf den Titel eines Buches eines anderen – ob tot oder lebendig – ohne Erlaubnis verwenden. Den Titel Kopfzerbrechen. Eine Romanze gibt es. Aber das Buch dazu gibt es nicht. Ein Titel ohne Buch aber ist kein Titel. Also nehme ich ihn mir. Es ist wie bei den Entrümpelungen.
Der Ordner Fragmentarisches I könnte vielleicht passen, denke ich mir, ein Mausklick, und was finde ich als erstes? Mein Faustfragment!
Faust auf der Couch, zündet sich eine Zigarette an, Mephistopheles hinter ihm, ein Bein über das andere geschlagen, schreibt mit.
Faust zu Mephistopheles:
Ich werde aufhören
Amen ich sage dir
Ich werde aufhören
Steht auf, entnimmt einer der Schubladen einen Totenschädel
ICH WERDE AUFHÖREN
Spielt mit dem Totenschädel
Wie hat die alberne Frage noch schnell gelautet
Wirft
Weitere Kostenlose Bücher