Absturz
empfunden haben muss, wie abgrundtief verhasst ihr selbst das letzte Stadium ihrer Existenz gewesen ist, weiß ich vom Herrn Dozenten Dolezal, dem einzigen der Nachbarn, der tatsächlich mit ihr gesprochen und der sich sogar mit dem Plan getragen hat, sich Frau Oberluggauers Leben von ihr selbst erzählen zu lassen und es niederzuschreiben: Ein Leben, das noch in der Monarchie begonnen hat, zwei Weltkriege, zwei Faschismen, zwei Republiken, den Wiederaufbau, den Sozialismus und auch noch dessen Dekadenz und Ende gesehen hat, ist wenigstens wissenschaftlich auf jeden Fall interessant, was immer auch die Inhaberin dieses Lebens daraus gemacht haben mag. Dazu ist es ja nun nicht mehr gekommen. (Der Herr Dozent ist aber erst vor wenig mehr als zwei Jahren – knapp vor dem Tod meines Vaters – eingezogen und kennt die Weltgeschichte des Hinterhofs nur aus Erzählungen. Er hat die Misanthropie hier nicht am eigenen Leib erfahren.) Ihm jedenfalls hat Frau Oberluggauer berichtet, dass alle Ärzte sie gesund nennen. Sie sei aber krank, und ob er ihr nicht einen Arzt nennen könnte, der ihr diese Krankheit zugesteht und diagnostiziert, wenn er sie schon nicht behandeln oder gar heilen kann. Ihm hat sie auch gestanden, dass sie häufig ganz dringend daran denke, sich aufzuhängen, und sie würde es auch bedenkenlos tun, nur seien die Räume des Altbaus viel zu hoch und ihr fehle einfach die nötige Körperkraft dazu.
Die Todesnachricht hat mir Emma überbracht. Ich bin gerade am Schreibtisch meines Arbeitszimmers gesessen, habe auf den Monitor gestarrt und am Unamuno-Roman gearbeitet. »Unsere Frau Oberluggauer ist gestern zu ihrem Schöpfer heimgegangen!«, hat Emma gesagt. So mild-ironisch-pathetisch hat sie es ausgedrückt. Ich brauchte einen Moment, um mich aus meiner Arbeit zu lösen und zu realisieren, was meine Frau da gerade gesagt hatte. Und meine erste und einzige Empfindung war: Staunen. Keine Betroffenheit, keine Bestürzung oder Trauer, aber auch keine Genugtuung, nichts. Bloß Staunen. Also doch! Jetzt fällt es mir ein, einen Gedanken hatte ich noch, eine Frage: Welcher Schöpfer? Aber ich habe die Frage nicht ausgesprochen. Die genaue Todesursache kenne ich nicht. Die letzten Monate soll sie in der Geriatrie verbracht haben, und der Grund ihres allerletzten Abtransports mit dem Rettungswagen wird vielleicht ein Schlaganfall gewesen sein. Wie Schlaganfälle sich entwickeln und enden können, habe ich beim Sterben meines Vaters gesehen. Aber mit zweiundneunzig braucht man gar keine genaue Todesursache. Ich bin nicht bei Frau Oberluggauers Begräbnis gewesen, und ich weiß auch nicht, ob ich hingegangen wäre, hätte mich nicht ein unaufschiebbarer Auswärtstermin, eine Lesung in Wien, daran gehindert. Aber meine Mutter war da und hat mir berichtet, die Beerdigung soll »nichts Besonderes« und schnell vorbei gewesen sein.
Und jetzt – die Verlassenschaftsangelegenheiten müssen also erledigt sein; in wessen Sinn, weiß ich nicht. Es interessiert mich auch nicht und geht mich nichts an – jetzt, vier Monate nach der Beerdigung also die Entrümpelung. Am Freitag ist der Autohändler gekommen und hat damit begonnen, Frau Oberluggauers Wohnung samt und sonders aus dem Fenster zu werfen, diese geheimnisvolle Wohnung, den Krimskrams und die Überbleibsel von zweiundneunzig Jahren, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Zwei volle Tage lang war in regelmäßigen Intervallen ringsum das dumpfe Krachen zu hören, das beim Aufprall der aus dem vierten Stock geworfenen Wohnungsteile auf den Erdboden entstanden ist, bis am Abend des zweiten Tages im Hinterhof in einem Umkreis von zehn Metern Durchmesser ein gut und gern drei Meter hoher postumer Gerümpelhaufen entstanden war, den man schon regelrecht besteigen musste, um zum Gipfel zu gelangen. Gleich in der Dämmerung sind ein Altwarentandler und sogar ein Antiquitätenhändler gekommen, um sich umzusehen, sie sind aber beide schnell wieder abgezogen. Dann hat es zwei Tage lang in Strömen geregnet, auf den Haufen und auf die ganze Stadt. Und dann ist die Familie Abab gekommen und hat den durchnässten, nach Moder riechenden Berg bestiegen und nach Verwertbarem durchwühlt: Vater, Mutter und zwei Töchter, jeder aus einer anderen Himmelsrichtung. Ich kam nicht umhin, beim Anblick der Menschen im Misthaufen im ersten Augenblick zu denken: Schmeißfliegen . Geier . Ratten . Und mir war mein Gedanke noch im Augenblick des Denkens sofort wieder im äußersten
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