Absturz
Maß peinlich und zuwider. Aber diese Tiere haben nun einmal mit dem Tod zu tun, mit Nachlassverwertung, Verlassenschaft und Verwesung. Die Ababs, seit ein paar Jahren auch eine der Nachbarsfamilien hier, kommen aus Ägypten, und wenn wir uns im Hinterhof begegnen – wiederum: beinahe täglich –, grüßen wir uns so freundlich, wie ihre Deutschkenntnisse und unsere Ägyptischkenntnisse das ermöglichen (meine Ägyptischkenntnisse existieren nicht, aber zu einem Gruß genügt ja ein kurzes Lächeln und eine hochgehaltene Hand). Unsere Kinder spielen mit der größten Selbstverständlichkeit miteinander, und wenn Emma die ägyptischen Mädchen mit einer Tafel Schokolade bedenkt, schickt ihr die ägyptische Mutter postwendend einen Teller voll ägyptischer Vanillekipferln. Nur dieses Mal haben wir uns nicht gegrüßt, weder deutsch noch ägyptisch noch manuell. Wir haben jeweils so getan, als würden wir uns gar nicht sehen, obwohl das Gegenteil für alle sichtbar war. Allen war die Szene entsetzlich peinlich: Den Ababs war peinlich, was sie taten, und dass ich sah, was sie taten, und sie werden sich wahrscheinlich gedacht haben, dass ich mir gedacht habe: Schmeißfliegen . Geier . Ratten . Mir war nicht nur peinlich, dass ich sah, was sie taten, tun mussten, während ich nicht einmal auf die Idee gekommen wäre, das, was sie taten, zu tun, jedenfalls nicht so (und im Gegenteil den Berg mit Gerümpel von meinem eigenen Dachboden noch vermehrte). Ich bin momentan nicht arm, während die Ababs arm und bedürftig sind, so arm und bedürftig, dass sie es notwendig haben, im zertrümmerten Wohnungshaufen der Frau Oberluggauer herumzuwühlen, um etwas für sie Verwertbares zu finden. Mir ist es peinlich, wenn jemand arm und bedürftig ist, und mir ist es peinlich, dass ich mich außerstand sehe, seine Armut zu beseitigen. Ob Vanillekipferl in Ägypten religionstraditionelle Bedeutung haben, weiß ich nicht; aber ich weiß, dass die Ababs keine Muslime, sondern koptische Christen sind und in ihrer Heimat deswegen verfolgt worden und Repressionen ausgesetzt gewesen sind.
Aber auch durch die Interventionen des Altwarentandlers, des Antiquitätenhändlers und der Familie Abab war Frau Oberluggauers gigantischer postumer Haufen kaum kleiner geworden, und nachdem die Ababs in der Abenddämmerung abgezogen waren, kam ich – der allerletzte Leichenfledderer, die letzte Schmeißfliege, der letzte Geier, die letzte Ratte: Ich kam – nach neunzig Jahren, nach vierzig Jahren, nach allen anderen, um genau an der Stelle, an der ich Frau Oberluggauer unter die neunzigjährigen Achseln gegriffen und wieder hochgestellt hatte, danach zu stöbern, was ich brauchen kann: nach Worten. Nach Vokabular. Sprache lauert überall. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich weder der Dozent noch die Ababs noch sonst wer beobachtet, kam ich mit Kugelschreiber und Notizblock, musterte den durchnässten Haufen von allen Seiten, stellte mich schließlich hin und notierte unter der Überschrift Was bleibt: Sperrholz, ruinierte Kommoden, modrige Matratzen, ein offenbar handgearbeiteter Vogelkäfig aus Holz à la Schikaneder (ohne Vogel), ein elektrifizierbarer Kunststoffchristbaum, etwa einen Meter lang, verbogen und zweimal gekrümmt, Handschuhe, eine Brille (zerbrochen), eine Brille (ganz), Zierpölster, Flechtkörbe, zwei zerschlissene & demolierte Plüschfauteuils in ausgebleichtem Olivgrün, Spannleintücher, Vorhänge, ein Strohhut, eine Bratpfanne, Plastikgeschirr, Kleiderbügel, Fetzen, Blechnäpfe, Plastikverkleidungen, Blumentöpfe, eine alte Semmel (aufgeweicht), eine schwere Holzkiste mit Eisenverschlägen, Bettvorleger, ein Fußabstreifer, ein Telefonbuch, Schuhe, Kleider, Handtaschen aus Plastik und Kunstleder, eine Axt, Papier, Plastiksäcke, Hefte (unleserlich), Zeitschriften, der Buchdeckel einer alten Faust-Ausgabe (aber ohne Buch; der Inhalt restlos herausgerissen; die Worte Göthe – tatsächlich mit ö geschrieben, wie es Jean Paul getan hat! – und Faust in Kurrentschrift – die habe ich sicher auch bei den Schrifttypen in Word, aber es wäre mir zu umständlich, sie zu suchen; ich bleibe bei Times New Roman; vergilbt, eingerissen, aufgeweicht), eine Zierdecke, noch ein Vogelkäfig, ein Ofen, Ansichtskarten (aufgeweicht).
Am nächsten Morgen war Frau Oberluggauers gigantischer verschachtelter Haufen kaputter Dinge wie von Geisterhand urplötzlich aus dem Hinterhof verschwunden, als hätte es ihn gar nicht gegeben.
Weitere Kostenlose Bücher