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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Leben, dass ich diese Frau berühren musste), sie hochgezogen, auf die Beine gestellt, zweimal, wie um mich abzuputzen, in die Hände geklatscht, mich geschüttelt, umgedreht und bin zurückgegangen. Der Nachbar hat sich bedankt, ich habe genickt, aber ich habe die ganze Szene lang nicht ein einziges Wort gesprochen. Fast ein ganzes Jahrhundert habe ich da aufgehoben, um mich keiner unterlassenen Hilfeleistung schuldig zu machen: ein durch und durch katastrophenverpestetes Jahrhundert, das mich von Kindesbeinen an von oben herab behandelt hat, als sei ich gar nicht vom Himmel gefallen. Das letzte Mal in ihrem Leben habe ich Frau Oberluggauer im Interspar gegenüber gesehen, wo sie sich mit ihrem Einkaufswagen bei der Fleischabteilung derart ungeniert und auffällig vordrängelte, dass sie – Altenehrung her, Altenehrung hin – von der Fleischerin zurechtgewiesen wurde, ohne dass ich reklamiert hätte: »Der Herr ist aber lange vor Ihnen da gewesen!« Ich nahm die Gelegenheit wahr, Gentleman und sarkastisch zu sein: »Nehmen Sie die Dame eben vor! Sie hat es eilig!«
    Mit achtundachtzig hat die Behörde Frau Oberluggauer den Führerschein entzogen und die Nummerntafel vom Wagen geschraubt – sie hatte zuletzt etliche Unfälle verursacht, die aber alle keine schlimmeren Folgen als Blechschäden hatten. Mit achtundachtzig reversiert man nicht mehr wie ein Junger: Oft zappelte Frau Oberluggauer mit ihrem Wagen eine halbe Stunde lang hilflos im Hinterhof wie eine Fliege im Spinnennetz (Vollgas, Vollkupplung, da eine beschädigte Hausmauer, dort unser eingedrückter Holzgartenzaun, hier ihr eigenes geknicktes Unkrautbeet), bis Emma sich erbarmte und ihren Wagen durch die Ausfahrt lenkte. Nach der Führerscheinabnahme hat sich Frau Oberluggauer zweimal täglich mit dem Taxi in den Park am Stadtrand chauffieren lassen, wo sie ihren Hund äußerln führte. (Sie hatte viele Autos – immer die gleichen – und viele Hunde – auch immer die gleichen – die je nach Geschlecht entweder Bobby oder Bobbinette hießen und Frau Oberluggauer im Park ebenso wie im Hinterhof ständig entliefen. Frau Oberluggauer hatte sich eine Schiedsrichterpfeife besorgt, die sie als Hundepfeife verwenden und die Tiere damit zurücklocken wollte. Halbe Vormittage lang pfiff Frau Oberluggauer mit ihrer Schiedsrichterpfeife durch den Hinterhof – als wäre sie allein auf der Welt! –, die Hunde aber ließen sich von einer Hundepfeife, die keine Hundepfeife war, weder irritieren noch disziplinieren und tollten munter weiter.) Ihren letzten moosgrünen Wagen aber ließ sich Frau Oberluggauer auch ohne Nummerntafel nicht nehmen (sie ist oft stundenlang ohne erkennbaren Sinn im parkenden Auto im Hinterhof gesessen), und dieser letzte moosgrüne Wagen steht noch heute, vier Monate nach ihrem Begräbnis, wo er immer gestanden ist, und er ist nach wie vor so abgestellt, dass ich jedes Mal Schwierigkeiten habe, den Parkplatz meines Wagens anzusteuern. Der letzte smaragdthujengrüne Wagen meines Vaters steht auch zwei Jahre nach dessen Tod ebenfalls noch auf seinem Platz, außerdem mit Nummerntafel. Meinem Vater ist zu Lebzeiten weder aus gesundheitlichen noch aus anderen Gründen jemals der Führerschein abgenommen worden, und würde mein Vater auferstehen, könnte er sich – im Unterschied zu Frau Oberluggauer – sofort in seinen Wagen setzen und losfahren. Ich weiß das nicht mit Bestimmtheit, aber zuletzt soll Frau Oberluggauer teilentmündigt gewesen und als Kurator soll ihr Autohändler eingesetzt worden sein. Dreimal in ihrem letzten Jahr ist sie hier vom Rettungswagen abgeholt und ins Krankenhaus eingeliefert, jeweils nach drei Tagen aber hierher zurückgebracht worden, ergebnislos, ohne Befund, alles bloß altersübliche Schwächeanfälle und Abbausyndrome. Erst vom vierten Einsatz ist sie nicht mehr zurückgekommen. Aber in ihre Wohnung zurückgekehrt hat sie jedes Mal ihren Autohändler bezichtigt, Dinge aus dieser Wohnung gestohlen zu haben. Diebstahl, Entsorgung, Entrümpelung, Teilentmündigung: Ich müsste ein Rechtsgelehrter sein, um diese vier Begriffe in einen sinnvollen, wahrheitsgemäßen Satz zu zwängen.
    Wie furchtbar menschenleer und einsam muss eine solche nicht und nicht enden wollende Existenz jedenfalls sein, wenn man niemand anderen als seinen Autohändler als Kurator vorgesetzt bekommt! Was für eine Demütigung! Dass Frau Oberluggauer ihr Leben gerade in den letzten Jahren als Plage, ihre Unsterblichkeit als reine Qual

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