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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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Croix , oder, um es gleich auf Deutsch zu sagen:  Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze.  Also, das erste Wort etwa: Pater dimitte illis; non enim sciunt quid faciunt, das zweite Hodie mecum eris in paradiso, oder um es gleich auf Deutsch zu sagen: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun; noch heute wirst du mit mir im Paradies sein, et cetera, et cetera.
    »Was ist damit?«
    »›Die sieben letzten Worte‹«, dozierte der Dirigent, »ein Haydn-Oratorium, seien ursprünglich das Ergebnis eines Auftrags, den der Domherr der Kirche Cueva in Cadiz erteilt hatte. Es war dort nämlich üblich, jedes Jahr in der Passionszeit ein Oratorium aufzuführen. Im mit schwarzem Stoff völlig verdunkelten Kirchenschiff wurden mittags, als die Feierlichkeiten begannen, die Türen geschlossen. Der Bischof stieg auf die Kanzel, sprach eines der sieben Worte und schloss einen Kommentar daran. Danach stieg er von der Kanzel herab und warf sich vor dem Altar nieder. Für jedes weitere Wort stieg der Bischof wieder auf die Kanzel, und nach jeder Ansprache spielte das Orchester.«
    Dieses vorösterliche Musiksprachwerk wollte der Dirigent hier wiederaufleben lassen. »Nur die Kommentare soll statt des Bischofs jedes Jahr ein Künstler machen. Und der Erste, den ich einladen möchte, sind Sie! Am Geld wird es wie gesagt nicht scheitern. Wären Sie mit zehntausend Euro einverstanden?«
    Cadiz! Spanien! Zehntausend Euro! Die Idee gefiel dir. Du hattest aus den letzten Jahren einiges aus den Tiefen deiner Selbst zu bergen, und vielleicht wären diese sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuz genau die richtigen, um dich nach so langer Zeit der Blockade wieder an den Schreibtisch zu locken.
    Früh sterben
    Oder: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (1. Wort)
    Früh sterben hat etwas Schauriges ebenso wie etwas Faszinierendes, vom Sterbenden selbst und seinen engsten Angehörigen einmal abgesehen.  Live fast, love hard, die young!  Die drei Imperative deiner alten Uni-Bar-Bekanntschaft Janis Joplin, die damals, als ich nach dem ersten großen sexuellen Erfolgserlebnis in die Spelunke gekommen bin, gerade  I’m counting on you Lord!  gegrölt hat – diese drei Imperative galten nicht nur für sie, den viel zu rasch verglühten Kometen, sondern auch für den Lord, für den Herrn, der es gibt und nimmt, für den Superstar Jesus Christus, der nur knapp sechs Jahre älter als Janis Joplin geworden ist, dreiunddreißig. Er hatte kein langes Leben, er hat sich nicht wiederholt und seine Worte und Gebote nicht variiert. Er hat sich nicht eingerichtet, er war bis zum letzten Atemzug nicht gut situiert. Er hatte keinen Lehrauftrag und keinen Doktortitel. Er hat kein Buch geschrieben, nicht einmal ein Testament. Er hatte nichts in der Hinterhand, nichts auf der hohen Kante und hinterließ keine geheimen Konten. Er hat sich restlos verausgabt und hingegeben, er wurde weder fett noch alt, und er gehörte nie zum gesellschaftlichen Establishment. Was ist denn Flower Power anderes als die englische Übersetzung der Lilien auf dem Felde? Live fast, love hard, die young: Das alles trifft auf Jesus Christus ebenso zu, und er hat die Philosophie genauso gepredigt, wenn auch mit anderen Worten. Aber wer wie die Lilien auf dem Felde lebt, muss zwangsläufig auch so früh sterben wie die Lilien auf dem Felde. Von Glashäusern hat Jesus nichts gesagt. Wäre Jesus wie im Film  Die letzte Versuchung Christi  vom Wohlstandsteufel verlockt und in die Irre geführt im letzten Moment tatsächlich wieder vom Kreuz gestiegen, wäre er sesshaft und Bauer geworden, hätte er ein Weib geehelicht, Kinder gezeugt und wäre im Kreis seiner Familie ruhig und selbstzufrieden, grau und glatzköpfig, alt und fett geworden, dann hätte er damit nicht nur, aber auch sein Musical riskiert. Mit solchen dramaturgischen Verwässerungen lockt man weder Fans noch Groupies an. Da hören sich Schaurigkeit und Faszination auf.
    Jesus Christus hat so schnell gelebt, so innig geliebt und ist so jung gestorben, dass er als Führer der Hippiegeneration viel besser passt als als non-playing captain eines verknöcherten klerikalen Establishments.
    Mittlerweile habe ich Janis Joplin um dreizehn, Jesus Christus um sieben Jahre überlebt, und wenn ich nicht bald vom Firmament verschwinde, werde ich nicht wie ein Komet verglüht, sondern wie die Grundmauern einer Ruine ausgebrannt sein. Übermut und Ausgelassenheit, Renitenz und das Vertrauen in

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