Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
Vom Netzwerk:
die eigene Stärke und Durchsetzungskraft nehmen ab, Bedenken, Sorgen und Ängste zu. Beschwerden und Verzweiflungen bleiben als Hausgenossen. Wenn ich so weitermache, ende ich gewöhnlich, fett, feig und alt.
    Ich habe niemals Händler aus dem Tempel meines Vaters geworfen, obwohl ich Lust gehabt hätte. Aber die Szene wäre mir peinlich gewesen, und ich hätte auch nicht im Sinn meines Vaters gehandelt. Sein Tempel war klein und profan, und er war selber Händler darin. Niemals bin ich wegen Ruhestörung, Sachbeschädigung oder gar wegen eines Gewaltausbruchs in die Zeitung gekommen. Es ist schon Jahre her, dass ich die letzte Polizeiwachstube von innen gesehen habe, um ein Strafmandat wegen Falschparkens zu bezahlen. Zu Provokationen habe ich leider Gottes keine Lust mehr. Ja, ich halte mitunter Reden und veröffentliche Schriften. Aber die politisch Mächtigen fürchten mich nicht und trachten mir nicht nach dem Leben. Geraucht habe ich immer nur das, was mir der Staat zu rauchen gegeben und verkauft hat, auf dass es ihm wohlergehe in finanzieller Hinsicht, und meine Haare sind auch schon lang nicht mehr lang. Ich bin nicht heroinsüchtig und besitze nicht einmal eine Lederjacke mit Totenkopfmotiv oder wenigstens eine Cannabisplantage. So schaut es aus.
    Trotzdem wäre es mir beinahe gelungen, letztes Jahr in Spanien, wo ich mich für meinen neuen Roman über den Unsterblichkeitstheoretiker Miguel de Unamuno umsah, einen solchen frühen Tod zu sterben und spektakulär Schluss zu machen, als ich in der letzten Nacht meines Aufenthalts beim Abschiedsabendessen im Restaurant La Pousada mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen bin. Da war ich neununddreißig. Jesus hat mir das Leben gerettet oder wenigstens die Rettungskette in Gang gesetzt: Allerdings war Jesus eine Frau, eine kastilische Germanistin mit dem in Spanien durchaus üblichen Vornamen Maria-Jesus, die mich sofort nach meinem Zusammenbruch in die Notaufnahme des Hospital Universitario de Salamanca gebracht hat. Meine Existenz hing, wie man sagt, an einem seidenen Faden, aus dem bis heute noch kein wirklicher Strick geworden ist. In Salamanca habe ich an der Universität übrigens einen Vortrag gehalten, der hatte – in Anlehnung an Nestroy – den Titel »Wenn alle Stricke reißen, häng’ ich mich auf.« Zehn Minuten später, und es wäre um mich geschehen gewesen. Während man mich mit sorgenvollen Blicken im Laufschritt von der  Urgencia  in die Intensivstation der kardiologischen Abteilung rollte, Nitroglycerin unter die Zunge sprühte, eine Leitung ins Herz legte, die sogenannte Lyse einleitete und, wie mir schien, Unmengen von Morphium spritzte, das aber die längste Zeit keinerlei schmerzlindernde Wirkung zeigte, sagte Doktor Augusto Perez, der Einzige von allen Ärzten, der außer Spanisch auch noch Englisch sprach, weil er ein halbes Jahr in Boston famuliert hatte, Emma, die nicht mit mir mit durfte, wie sie mir später erzählte, sie müsse sich darüber im Klaren sein, dass akute Lebensgefahr bestehe und sie die nächsten achtundvierzig Stunden auf alles gefasst sein müsse.
    Mir sagte er das natürlich nicht so. Aber der kleine, dicke, grün vermummte Arzt in der Notaufnahme hatte gleich, nachdem ich ans  EKG  angeschlossen worden war, gerufen: »Infarto! Infarto!« Ich habe mir daraufhin gleich gedacht: »Unsinn! Unfug! Irrtum!« Oder vielleicht lag ein Übersetzungsfehler vor. Vielleicht meinte das grüne Männchen Infekt, nicht Infarkt. Woher sollte ich denn so plötzlich einen Infarkt bekommen haben? »Der Österreicher denkt sich sein Teil und lässt die andern reden«, habe ich gedacht. Ich glaubte die Diagnose also nicht, hatte aber nur das eine dringende Interesse, endlich den gigantischen Schmerz in der Brust und den Druck in beiden Armen loszuwerden. Woher kam dieser wahnsinnige Schmerz bloß? Wie hatte er sich eingeschlichen? Könnte ich mir bloß die Brust aufknöpfen wie eine Jacke, dann würde ich mit der Hand hineingreifen und den Schmerz herausholen, den Knödel, den Stein, den Felsbrocken. Einen Felsbrocken in der Brust kann man ja nicht brauchen! Aber hatte ich diesen Schmerz nicht immer schon, und war er mir bloß nicht bewusst gewesen? Fiel mir eine einzige Szene meines Lebens ein, in der ich diesen Schmerz, diesen Fels nicht hatte? Oder brachte ich etwas durcheinander? War ich wahnsinnig geworden? War es aber nicht völlig unmöglich und aussichtslos, darauf zu hoffen, diesen Schmerz jemals wieder loszuwerden? Wollen

Weitere Kostenlose Bücher