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Absturz

Absturz

Titel: Absturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gstaettner
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nicht alle Schmerzen Ewigkeit? War dieser Schmerz nicht von jeher mein Herr und Meister? Der Schmerz ist ein Schmarotzer! Wollen nicht alle Schmerzen mit ins Grab genommen sein? Aber da täuschen sie sich. Da dürfen sie nicht hinein. Da müssen sie leider draußen bleiben wie die Köter vor dem Supermarkt.
    Ich dachte auch daran, dass am Ende der Nacht, am nächsten Morgen, in nicht einmal zehn Stunden in Madrid, wohin ich von Salamanca aus ja auch noch musste, mein Flugzeug nach Wien abheben würde, und dieses Flugzeug wollte ich unter gar keinen Umständen versäumen. Rot-weiß-rote Stewardessen in heißen roten Stilettos würden mich am Eingang freundlich lächelnd in Empfang nehmen und mir die große Zeitung anbieten, aus der ich mir selbst mit unergründlichem Blick, mit meinem Pokerface entgegenschaute. Das goldene Johann-Strauss-Männchen würde mit seinem goldenen Geigchen auf Zehenspitzen durch den schmalen Mittelgang zwischen den Sitzreihen tänzeln und mir und den übrigen Fluggästen ein Neujahrsständchen darbringen, diledidumdumdum-dumdum, dazu noch rrröstfrischer Kaffee, vom Plafond würde es in guter alter, biblischer Manier Stephansdomschnitten regnen, und die Stewardess würde die Flugzeugtür so sachte schließen, dass auch die allerzarteste Seele darin keinen Schaden nehmen könnte. Fasten your seat belts! Ready for take-off, Mr. Möller! Ich glaubte, während ich mit dem Tod rang, durchaus nicht, dass ich mit dem Tod ringe. Ich glaubte gar nichts. Immerhin hatte ich vor lauter Schmerzen keine Angst, keine Todesangst, sondern das Gefühl, gerade etwas sehr Wichtiges zu erledigen. Den Tod besiegt man am ehesten, indem man gar nichts davon bemerkt.
    Kurz bevor ich vor lauter Erschöpfung und Schmerzen das Bewusstsein verlor, kam mir der Gedanke, was denn wäre, wenn das jetzt doch das Ende wäre: Mit neununddreißig gestorben an einem Herzinfarkt in Salamanca – ein perfektes Finale! Ein großes Abenteuer, wie gemacht für ganzseitige Nachrufe mit fetten Schlagzeilen! Viel gelungener jedenfalls als so ein elend und unter Ausschluss der Öffentlichkeit sich hinziehender Bauchspeicheldrüsenkrebs dreißig Jahre später irgendwo in der Provinz und im Ausgedinge nach längst überschrittenem Zenit. Ich wäre aber – füge ich jetzt rückwirkend hinzu – weder für einen Glauben, noch für ein Ideal, noch für meine Überzeugung gestorben, weder als Märtyrer, noch als Held, noch als Provokateur und nicht einmal für Exzess und Ekstase: Mein Tod wäre zwar früh und tragisch und eventuell postum effektvoll, an sich aber völlig sinnlos, nichtssagend und banal gewesen. Ans Kreuz genagelt hatte Jesus die göttliche Herablassung, mit einem Abwesenden über Anwesende in der dritten Person zu sprechen, als wären die gar nicht da; und er war sogar so verwegen, den abwesenden Vater um Vergebung für seine Mörder zu bitten. Theoretisch hätte er ihnen auch selbst vergeben können, aber Jesus hat seine Mörder ja noch während des Mordes, also des Ermordertwerdens komplett ignoriert.
    Meine Gliedmaßen waren nicht mit Nägeln durchlöchert, sondern mit Elektroden bestückt, wie auch der Brustkorb und der ganze Oberkörper. Ich war nicht ans Kreuz genagelt, sondern an medizinische Apparate angeschlossen, die ununterbrochen blinkten und tuteten und klingelten und falsche Alarme gaben, exakt die Kulissen, in denen Papa vor nicht einmal vier Jahren in einem Wachkoma dem Tod entgegengedämmert war, ehe er schließlich sohnseelenallein gestorben ist. Unter meinem Rücken war nicht der Längsbalken eines Kreuzes, sondern eine Leibschüssel, eine Urinflasche und ein mir viel zu kurzes Bett, sodass meine Beine weit über die untere Kante hinausragten und in der Luft baumelten, was bei einem gerade mit dem Tod Ringenden besonders albern aussehen muss, auch wenn weder die Ärzte noch die Schwestern lachten, sondern mir mit zunehmend ernsten Mienen Morphium und Morphium und wieder Morphium spritzten.
    Es gab niemanden, den ich in meiner Lage anklagen, und schon gar niemanden, dem ich hätte vergeben können. Mein Unheil hatte keinen Adressaten, mein Martyrium war vergebens. Aber was für ein unterschätzter Skandal: Naturversagen.
    Hysterische Identifikation
    Oder: Wahrlich ich sage dir, noch heute wirst du bei mir im Paradies sein! (2. Wort)
    Mein Infarkt passierte exakt sechs Stunden nach dem Gespräch mit Professor Gonzalez in seinem Büro in der Universität von Salamanca, bei dem ich erfahren habe, dass Don

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