Absturz
Miguel de Unamuno, der Dichter, Dissident, Philosoph, Metaphysiker und ehemalige Rektor am Silvestertag des Jahres 1936 an einem Herzinfarkt gestorben war. Ein Freund und Psychologe hat diese zufällige Parallele mit einem Terminus technicus mir gegenüber halb im Scherz »hysterische Identifikation« genannt. Tatsächlich spürte ich schon während des Gesprächs mit Professor Gonzalez ein rätselhaftes Unwohlsein und eine Beklemmung; ebenso am Tag zuvor am katholischen Friedhof von Salamanca draußen am Stadtrand, wo ich Unamunos Grab, das heißt: seine Sargnische in der Friedhofsmauer besichtigt hatte, ganz so, als hätte mir mein Romanheld Unamuno, der einmal ein wirklicher Mensch gewesen war, durch die Jahrzehnte aus dem Jenseits geradewegs in Gonzalez’ Büro hinein zugerufen: »Hodie mecum eris in paradiso!« Paradiso heißt übrigens die Friedhofserde, die beim Holland-Blumenmark in Plastiksäcken literweise verkauft wird. Der Himmel ist unten.
Das Wort Unsterblichkeit übte auf Unamuno zu Lebzeiten von Kindesbeinen an eine magische Wirkung aus. Er hat alle Philosophen und Philosophien hauptsächlich nach diesem einen Wort durchstöbert. Unsterblichkeit! Fleischliche Ewigkeit! Konkrete Kontinuität der Person ist ihm wichtiger als die Existenz Gottes gewesen. Man wird, sagte Unamuno, in Kants Kritik der reinen Vernunft finden, dass das Dasein Gottes aus der Unsterblichkeit der Seele abgeleitet wird, aber keineswegs umgekehrt.
Was wir Menschen als Zustand nach dem Tode genau genommen ersehnen, schrieb Unamuno in seinem Opus magnum Das tragische Lebensgefühl , sei die Fortsetzung dieses Lebens, dieses selben sterblichen Lebens, aber ohne seine Übel, ohne den Lebensschmerz und ohne den Tod. Das tragische Lebensgefühl sei nichts anderes als das tragische Bewusstsein der Bedrohtheit des Ichs, der Rettungslosigkeit des Ichs am Ende. Dieser ganze tragische Kampf des Menschen um sein Leben, der unsterbliche Trieb nach Unsterblichkeit, all das sei nur ein Kampf um ein Bewusstsein. Wenn dieses Bewusstsein nichts anderes wäre als ein Blitz zwischen zwei dunklen Ewigkeiten, dann wäre das Leben das Abscheulichste in der Welt! Im Vergleich zu irgendeinem Haustier oder einer Krabbe sei der Mensch ein leidendes und ein krankes Wesen, schrieb Unamuno. Das Bewusstsein an sich sei eine teuflische Krankheit. Ein Menschenaffe hatte einmal einen kranken Nachkommen, krank vom Standpunkt des Tieres und der Zoologie. Denn es geschah, dass ein einziges Wirbeltier, ein einziges Säugetier sich aufrichtete: das Menschentier. Der Mensch. Seine aufrechte Haltung machte ihm dann die Hände frei, er musste sich beim Gang nicht mehr auf sie stützen. Dann konnte er seinen Daumen den vier anderen Fingern entgegensetzen, damit fremde Gegenstände ergreifen und zu Werkzeugen umwandeln. Und diese selbe Haltung machte seine Lungen mit seiner Luftröhre und seinem Kehlkopf und Rachen geeignet, regelmäßige Laute auszustoßen. Die Sprache war aber bereits Geist. Alle, Gorilla, Schimpanse, Orang-Utan und ihre Gefährten, sahen also den Menschen als ein armes, erkranktes, entartetes Geschöpf an, schrieb Unamuno. Wenn die Gesundheit kein Abstraktum, sondern etwas wäre, was es in Wirklichkeit gibt, so könnten wir geradezu sagen, dass ein ganz gesunder Mensch überhaupt kein Mensch mehr ist, nur etwas Irrationales der zoologischen Reihe. Es ist wirklich nur eine Krankheit, und eine tragische, was uns nach der Erkenntnis streben lässt, die Liebe zu der Erkenntnis selbst.
Sollte unser ganzes Leben nicht ein Traum sein und der Tod ein Erwachen? Aber Erwachen wozu? Und wenn das alles nur ein Traum Gottes wäre und Gott eines Tages erwachte? Wird er sich an seinen Traum erinnern?
Ich wollte wissen, liebe Frau Großholtz, wie der Mensch, der das gefragt, gedacht, geschrieben hat, gestorben ist. Ganz konkret. Handeln wir, rief Unamuno, auf dass das Nichts, wenn es uns bestimmt sein sollte, eine Ungerechtigkeit ist, kämpfen wir dagegen nach der Art Don Quixotes!
Das, was Unamuno das tragische Lebensgefühl nannte, sagte mir Gonzalez in seinem Büro, während mir unwohler und unwohler wurde, fand er vor allem in seinem eigenen Bewusstsein, weil es ein spanisches war, und damit zugleich in seinem spanischen Volk mit seinem katholischen Gefühl. Übrigens wollte Unamuno nicht Spanien europäischer, sondern Europa spanischer machen. Und es gab, wie er schrieb, eine Gestalt, eine tragikomische Gestalt, in der man das tief Tragische
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