Absturz
der menschlichen Komödie erblicken könne, die Gestalt unseres Herrn Don Quixote, des spanischen Christus, in welchem die unsterbliche Seele dieses Volkes zusammengefasst und beschlossen liege. Die neue Mission Don Quixotes heute in dieser Welt sei die des Rufers in der Wüste. Unamuno fühlte sich als ein solcher Don Quixote und Künder einer quixotesken Philosophie. Beim österreichischen Christus muss es sich demzufolge um den lieben Augustin handeln, dachte ich unwillkürlich, liebe Frau Großholtz. Oder um den Kaspar Hauser. Oder um das Kasperle. Weniger würdig, aber tragisch doch auch.
Ich wollte ein Buch schreiben über einen Mann namens Unamuno, der einmal ein wirklicher Mensch gewesen war und dessen gesamtes Werk eine einzige Variation zu den Themen Leben und Tod, Unsterblichkeit und Gott war. Der Mann durchlebte und durchlitt etliche tiefe religiöse Krisen, und der Kern jeder Krise war immer die Frage der persönlichen Unsterblichkeit. Werde ich bleiben? Werde ich immer sein? Wird es mich immer geben? Als Kind glaubte mein Held daran ganz unmittelbar. So wie der Meister vom Himmel gefallen war, so würde er auch wieder in den Himmel fahren: festlich, hochgestimmt, mit Kind und Kegel und allem Drum und Dran. Vor dem Essen, nach dem Essen putzte sich das Kind die Zähne und betete darum, fromm zu werden, um in den Himmel zu kommen. Später kollidierte dieses Gebet leider mit den Maximen der positivistischen Wissenschaft und Philosophie. Ich weiß woher. Ich weiß wohin: Mich wundert’s nicht, dass ich traurig bin. In dem Maß, in dem der Glaube an seine persönliche Unsterblichkeit ins Wanken geriet, versuchte Unamuno, andere Formen der »Unsterblichkeit« durch leibliche Nachkommenschaft, literarischen oder politischen Ruhm in den Vordergrund zu stellen: Er zeugte acht Kinder und mindestens viermal so viele Romane, Erzählbände, Theaterstücke. Er kämpfte, wie es einem großen Mann zukommt, gegen Tyrannen und Tyrannei und nahm Hausarrest, Verbannung und Exil in Kauf. Er ließ sich nicht beugen und nicht brechen. Feeling good wasn’t good enough for him.
Auslöser der schwersten religiösen Krise als Dreiunddreißigjähriger war wahrscheinlich ein erster Anfall seiner Herzneurose. Die Krise ihrerseits führte wieder zu einer Herzneurose, und so war Unamunos weitere Existenz eine kaum unterbrochene Abfolge von Religionskrisen und Herzneurosen und wieder Religionskrisen und wieder Herzneurosen bis zum Herzinfarkt und bis zum Tod. Come on, take another little piece of my heart.
Ich wollte also, liebe Frau Großholtz – und so steht es auch im zweiten meiner Sieben letzten Worte – ein Buch über einen Mann schreiben, der sich danach gesehnt hat, seinen Kinderglauben wiederzugewinnen. Welche Anstrengungen er aber auch unternahm, welchen Donquixotterien er sich auch hingab: Es gelang ihm nicht. Er ist in Wirklichkeit Atheist geblieben, der mit all seinen Reden und Schriften über sein tragisches Lebensgefühl und seine Gottsuche nur Literatur geschaffen hat in der bewussten Absicht, damit seine Legende oder seinen Mythos , das heißt: seinen irdischen Nachruhm zu begründen: Der Mann, den ich beschreiben wollte, war Atheist, doch mit solcher Sehnsucht nach Gott und Ewigkeit einerseits und so sehr Komödiant und begierig nach Ruhm andererseits, dass er sein wahres Problem, seinen Mangel an Glauben, unter einem ungeheuren Schwall von Worten verbarg.
Um ein Ende für mein Buch zu finden, war es das eigentliche Ziel meiner Reise nach Salamanca, herauszufinden, was für ein Tod der Tod Unamunos gewesen ist. Ob es ein Tod gewesen ist. Ob er auferstanden, unsterblich geworden oder ob ihm das ungerechte Nichts bestimmt gewesen ist. Was an diesem letzten Tag des Jahres 1936 in Salamanca tatsächlich geschehen ist. Der Preis war hoch, aber ich habe es erfahren. Nur das Paradies habe ich nicht gefunden.
Nach mir mein Mittelfinger
Oder: Frau, siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter! (3. Wort)
»Frau, siehe, dein Sohn! Jünger, siehe, deine Mutter!« Das heißt für mich: Niemand ist unersetzbar. Hätte mich am Sterbebett einer gefragt, wie es mit mir nach meinem Tod weitergehen mag, dann hätte ich mir den Schlusssatz des Romans des französischen Neoexistenzialisten geborgt, der damals gerade in aller Munde war: »Man wird mich vergessen. Man wird mich schnell vergessen.« Traurig, aber wahr. Nothing left to lose.
Auch am Tag nach dem Sterben, an dem ich in einem sommerhimmelblauen
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