Absturz
erdulden, die mich am Leben erhalten. Na ja, die arme Emma riecht sie. Die Mitleidsunmöglichkeit gilt ebenso für mich selbst angesichts des Leides und der Tragödien um mich herum.
Um die neunte Stunde schrie Jesus laut: »Eli, Eli, lemá sabachtáni?« Das heißt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Die Theologie hat große Schwierigkeiten, diese Stelle nicht atheistisch zu interpretieren, und versucht es, indem sie Jesus an dieser Stelle explizit einen Menschen nennt und erklärt, alle Einsamkeit und alle Hoffnungslosigkeit des Lebens sei hier wie in einem Brennpunkt zusammengefasst. Die Grenze, an der das Unmenschliche beginnt, sei überschritten. Na schön. Ich warte auf ein theologisches, teleologisches, metaphysisches Aber. Es kommt aber keines. Es folgt bloß die Bitte: »Herr Jesus Christus, du bist hinabgestiegen in die Hölle der Einsamkeit und Gottesverlassenheit. Hilf uns, die ›Abwesenheit Gottes‹ zu ertragen.« Das ist, mit Verlaub, ein starkes und nicht minder absurdes Stück: Die Menschen treten in Dialog mit ihrer eigenen Fantasie und beklagen ihr gegenüber, dass sie nicht da ist. Und nicht anders ist es mir gegangen in der Woche im Krankenhaus von Salamanca, in der ich nichts anderes tun konnte als beim Fenster hinaus auf einen anderen gläsernen Krankenhauskomplex zu starren, in dem sich der tiefblaue kastilische Winterhimmel spiegelte; eine andere Aussicht hatte ich nicht, Tag für Tag und Stunde für Stunde und Blick für Blick. Kein Schöpfer hat mich verlassen, aber meine Schöpferkraft und meine Schöpfungen. Alles weg. Und ich bin in öffentlichen Institutionen klammheimlich, aber schlagartig weniger wert geworden. Die Versicherung zahlte mir die kleine Lebensversicherung aus, für die ich eingezahlt hatte, versicherte mich als Herzinfarktler medizinisch nachtragend ab sofort aber natürlich nicht mehr. Die Versicherung versichert, wie sie stolz behauptet, das Spitzenprodukt der Evolution. Die Versicherung versichert das Wunder Mensch. Mich versichert sie nicht mehr. Ich bin das blaue Wunder der Versicherung.
So viele Jahre wollte ich anders als die anderen sein, als ein anderer gelten, aber niemand hat mir mein Anderssein abgenommen und zugestanden. Jetzt, wo mir das ganz und gar nicht passte, war ich schlagartig ganz offiziell anders als die anderen. Ich hatte keine Wahl mehr. Und es ließ mir niemand eine Wahl.
Essig
Oder: Mich dürstet! (5. Wort)
»Mich dürstet!«, sage ich den Ärzten seit einem Jahr bei jedem einzelnen Besuch und jeder einzelnen Untersuchung mit wachsender Verbitterung und Verzweiflung, ob sie bei der Angiografie mit einem Schlauch in der Leistengegend in meinen Körper eindringen, mit dem Schlauch ins Herz fahren, um in der Herzarterie ein Mikrostahlgitter zu implantieren, ob sie mir Blut abnehmen, um Cholesterin und Triglyceride zu bestimmen, ob sie eine Sonografie des Herzens oder des Magens an mir vornehmen, ob sie mich auf den Ergometer setzen, ob sie mich tatsächlich wieder auf eine Art Kreuz spannen und mich beim Magenröntgen durch den Raum wirbeln lassen, ob sie mir den Darm waschen und einen Schlauch in den After treiben – denn meine Verdauung ist desaströs seit exakt einem Jahr, genau von dem Tag weg, seit dem ich die Unmengen Tabletten schlucken muss und nicht mehr rauchen darf. Mich dürstet, sage ich, und die Ärzte schweigen, wenn ich wie einen flehentlichen Appell nach wie vor das Wort Rauchen im Mund führe. Mich dürstet, sage ich, und buchstäblich jedes Mal, da mein Durst nicht gestillt und mein Bedürfnis nicht befriedigt wird, bringt mich weiter weg von meinem Leben. Mein Wille und mein Lebenswille sind zerbrochen, die Resignation nimmt zu, die Unlust nimmt zu. Mich dürstet, sage ich den Ärzten innerlich immer zerrütteter und verwahrloster. Mich dürstet nach meiner Zigarette, nach Süßem, nach Fleisch, nach Alkohol, nach Ekstasen, nach Räuschen aller Art, vor allem in geradezu existenzieller Weise nach meinen Zigaretten. Sooft mich dürstet, sooft verschreiben mir die Ärzte vom Praktiker bis zum Internisten und vom Röntgenfacharzt bis zum Kardiologen einer wie der andere ohne Aussicht auf Einsicht hartnäckig, eisern, abgebrüht: Essig!
»Alle Sehnsucht dieser Erde ist enthalten in dem Wort: ›Ich bin durstig!‹«, heißt es im Gotteslob . (Damals hat man den Tabak noch getrunken ). »Und alle Enttäuschung ist in dem Essig, der die Lippen Jesu benetzte«, im Essig, in den Blattsalaten, die man
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